Papst Franziskus wird am Samstag im Vatikan mit drei chilenischen Gläubigen Gespräche führen. Es handelt sich um Opfer jahrelangen sexuellen Missbrauchs durch Geistliche in Chile. Es ist ein bemerkenswerter Empfang, denn er signalisiert eine Kehrtwende des Papstes. Noch im Januar hatte sich Franziskus bei einem Besuch in Chile hinter die chilenischen Bischöfe gestellt. Fragen an Südamerika-Korrespondent Ulrich Achermann.
SRF News: Wie wurde die Einladung der Missbrauchsopfer durch den Papst in Chiles Öffentlichkeit aufgenommen?
Ulrich Achermann: Es löste sehr grosses Interesse aus. Die Zeitungen berichten sehr ausführlich darüber. Einige Fernsehsender haben Sonderkorrespondenten nach Rom geschickt. Es ist ein einmaliger Vorgang. Es ist noch nie vorgekommen, dass ein Papst Missbrauchsopfer zu sich ruft und sich mit jedem Einzelnen sehr viel Zeit für Gespräche nimmt.
Was ist über die Geschichte der eingeladenen Missbrauchsopfer bekannt?
Bekannt ist, dass es sich um junge Burschen mit festen Bindungen zur katholischen Kirche gehandelt hat. Sie wurden über Jahre hinweg sexuell belästigt und missbraucht. Und zwar in einer Kirche in der Hauptstadt Santiago von einem sehr konservativen Geistlichen. Er wurde von Mitwissern gedeckt, die nichts unternommen haben. Von diesen Mitwissern sind dann später einige auch vom aktuellen Papst in Chile zu Bischöfen ernannt worden.
Wie erklärt man sich in Chile die Kehrtwende des Papstes?
Der Papst hatte sich während seines Besuchs im Januar in Chile dezidiert und ablehnend geäussert, was die Missbrauchsvorwürfe betrifft. Er nahm also die chilenischen Bischöfe und den Klerus insgesamt in Schutz. Aber schon auf dem Heimflug hat er dann offenbar gemerkt, dass er da ins Fettnäpfchen getreten ist und hat um Entschuldigung gebeten. Anschliessend hat er das Ganze so korrigiert, dass er die Vorwürfe von sexuellen Belästigungen und Missbräuchen durch einen päpstlichen Sonderermittler abklären liess.
Wird der chilenischen Klerus jetzt vom päpstlichen Sonderermittler belastet?
Offenbar sehr stark. Was vorher nicht festgestanden hat oder vielleicht von Bischöfen verschwiegen wurde, hat sich jetzt offenbar alles bestätigt. Der in der Öffentlichkeit nicht bekannte Bericht des Sonderermittlers wird vom Papst offenbar 1:1 übernommen.
Gab es durch die Untersuchungen auch neue Erkenntnisse zu den Missbrauchsfällen?
Das ist nicht bekannt. Denn der päpstliche Sonderermittler erstattet nur dem Vatikan Bericht. Allerdings hat sich der Papst auf diesen Bericht schriftlich bei den chilenischen Bischöfen gemeldet. Da kündigte sich ein grösseres Donnerwetter an: Der Papst hat zum einen um Vergebung ersucht und hat zum anderen zwischen den Zeilen auch ziemlich deutliche Kritik verlauten lassen.
Im Mai werden die 33 chilenischen Bischöfe in Rom in corpore vorstellig. Werden Köpfe rollen?
Davon gehen die Öffentlichkeit und auch die Kirchenspezialisten in Chile aus. Der Papst hat alles Interesse daran, jetzt Klarheit zu schaffen und Zeichen zu setzen. Ich könnte mir vorstellen, dass er an den Missbrauchsfällen in Chile ein Exempel statuieren will. In dem Sinn, dass es nicht mehr geduldet wird, wenn solche Vorfälle unter den Teppich gekehrt werden. Man geht davon aus, dass zwischen vier und neun Bischöfe abgesetzt werden könnten.
Das Gespräch führte Marlen Oehler.