Seit Tagen strömen aufgebrachte Norwegerinnen und Norweger ins Foyer des nationalen Parlamentes. Sie verlangen Auskunft. Und sie verlangen Gerechtigkeit. «Ich wurde zu Beginn des Jahres zu fünf Monaten Gefängnis wegen Sozialversicherungsbetrug verurteilt», sagt die 50-jährige frühere Pflegeangestellte Siv Renee Eriksen gegenüber dem norwegischen Radio. Ihr Vergehen: Sie reiste ins Ausland, obwohl sie in Norwegen krankgeschrieben war.
So erging es in den letzten Jahren und Jahrzehnten Tausenden von Norwegern, wobei die meisten von ihnen glimpflicher als Eriksen – mit einer Geldbusse – davonkamen. Norwegen trat 1994 dem Europäischen Wirtsschaftsraum EWR bei und ist seither verpflichtet, in vielen Bereichen der Gesetzgebung der EU zu folgen. Dazu gehört die Reisefreizügigkeit für Sozialversicherungsbezüger.
Norwegen missachtete geltendes Recht
2009 machte die Überwachungsbehörde der EFTA, die ESA, Norwegen erstmals auf diese gemeinsame Grundfreiheit aufmerksam. Doch die staatliche norwegische Wohlfahrtsagentur NAV hielt an ihrer Praxis fest: Wer ohne ausdrückliche Bewilligung der Behörde ins Ausland fuhr, wurden die Sozialleistungen rückwirkend aberkannt und man wurde angezeigt.
Das steht in Widerspruch zu geltendem europäischen Recht, zu dessen Befolgung sich das Land verpflichtet hatte. Dies räumt nun auch die zuständige konservative Sozialministerin Anniken Hauglie ein: «Wir haben festgestellt, dass die Behörden einen Fehler gemacht haben und das schon seit vielen Jahren. Dafür wollen wir uns bei den Betroffenen entschuldigen», erklärte sie im Parlament.
Neben internen Untersuchungen bei der Wohlfahrtsbehörde und im Department der Sozialministerin ist nun auch eine Parlamentarische Untersuchungsskommission eingesetzt worden. Diese will herausfinden, wie und wie lange es möglich war, dass der norwegische Staat auf Kosten der eigenen Bürgerinnen und Bürger gegen eine Grundfreiheit des EWR verstossen konnte.
Gerichte trugen illegale Praxis mit
Dabei fällt auf, dass auch norwegische Gerichte diese illegale Praxis der Sozialbehörden bis zu diesem Frühjahr voll mitrugen und die Regierung erst in diesem Herbst die Notbremse zog. Dabei wusste zum Beispiel die zuständige Sozialministerin bereits seit einem Jahr, dass es in der Frage von Sozialleistungen an Norweger im Ausland einen grossen Konflikt mit Europarecht gibt.
Das ist der grösste norwegische Justizskandal in Friedenszeiten
Im norwegischen Parlament verlangen nun deshalb nicht nur Direktgeschädigte Konsequenzen dieses Staatsversagens. Björnar Moxnes, Parteivorsitzender der Linkspartei Rödt, kündigte in dieser Woche an, ein Misstrauensantrag gegen Hauglie einreichen zu wollen: «Das ist der grösste norwegische Justizskandal in Friedenszeiten», erklärte Moxnes gegenüber einem Videoreporter der Tageszeitung «Dagbladet».
Allerdings wollen nun die meisten anderen Parteien im Parlament den Bericht der Untersuchungskommission abwarten, bevor politische Konsequenzen gezogen werden. Seitens der Sozialversicherungsbehörden wird unterdessen versucht, alle fälschlicherweise gebüssten oder verurteilten Bezüger von Sozialleistungen ausfindig zu machen. Ob und wie diese entschädigt werden sollen, ist jedoch im Moment noch eine unbeantwortete Frage – wie viele andere auch – in dieser für einen europäischen Rechtsstaat fast unglaublichen Geschichte.