Die Berichte über massive Verfehlungen von Mitarbeitern der Hilfsorganisation Oxfam sorgen in Grossbritannien für hohe Wellen. Den Vorwürfen zufolge wurden in Haiti, im Tschad und möglicherweise auch in Südsudan aus Helfern Täter, die Frauen in Notlagen ausgenutzt haben sollen.
Nun wurde in Guatemala auch noch der Präsident der von Grossbritannien aus operierenden Organisation verhaftet, weil er während seiner Zeit als guatemaltekischer Finanzminister korrupt gewesen sein soll. Die Briten zeigen sich schockiert ob der Vorwürfe, wie Korrespondent Martin Alioth im Interview erläutert.
SRF News: Wie reagieren die Leute in Grossbritannien auf die Enthüllungen der britischen Presse der letzten Tage?
Martin Alioth: Mit grosser Bestürzung. Oxfam ist eine britische Herzensangelegenheit. Keine Hilfsorganisation erhält hier mehr private Spenden. Oxfam ist mit rund 750 Läden für gebrauchte Kleider, Fair-Trade-Produkte oder antiquarische Bücher im britischen Alltag allgegenwärtig. Der Vertrauensverlust, den Oxfam in den letzten Tagen hat hinnehmen müssen, ist immens.
Es geht um Vorfälle, die schon einige Jahre zurückliegen. Oxfam hatte seinerzeit gehandelt und die Verantwortlichen entlassen. Warum sind die Vorkommnisse nun Jahre später ein Skandal?
Oxfam hat die genauen Umstände der Verfehlungen in Haiti nie publiziert und unter Verschluss gehalten. Nun kam letzte Woche durch eine Untersuchung der «Times» heraus, dass nicht einmal die Hilfswerk-Aufsichtsbehörde oder das Entwicklungshilfeministerium darüber informiert worden waren.
Oxfam scheint aus den Fehlern früherer Jahre nichts gelernt zu haben.
Jetzt herrscht Rechtfertigungszwang für Oxfam. Zudem sieht es danach aus, als ob die Hilfsorganisation die Kontrollen in den letzten Jahren nicht verbessert hat, also nichts aus den früheren Fehlern gelernt hat. Es wird einfach weitergewurstelt.
Nun wurde in Guatemala noch der Präsident von Oxfam international verhaftet, wenn auch wegen Korruptionsvorwürfen, die mit seiner Tätigkeit für die Organisation direkt nichts zu tun haben. Warum zeigt sich Oxfam nicht sensibler bei der Personalauswahl?
Diese Frage stellen sich die Briten auch. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich Oxfam in der Vergangenheit als moralisches Gewissen Grossbritanniens aufgespielt hat. So hat die Organisation das weltweite Armutsgefälle oder die Steuerhinterziehungspraxis untersuchen lassen. Solche ethischen Ansprüche vertragen sich allerdings schlecht mit der Menschenverachtung, mit der das Oxfam-Personal in der dritten Welt offenbar auftritt.
Die britische Regierung ist bestürzt und wütend.
Was sagt die britische Regierung zu all dem?
Sie zeigt sich bestürzt und ist wohl auch wütend darüber, dass sie über die Vorfälle nicht informiert wurde. Die zuständige Ministerin sagte heute, wenn Hilfswerke ihre Schutzpflicht sowohl für ihre Angestellten als auch für die Hilfsbedürftigen nicht garantieren könnten, werde sich die britische Regierung aus der Finanzierung dieser Organisationen zurückziehen. Derzeit erhält Oxfam von der britischen Regierung immerhin 32 Millionen Pfund pro Jahr für ihre Arbeit.
Wird der Fall Oxfam weitere politische Folgen haben?
Das ist durchaus möglich. Nicht zuletzt deshalb, weil Entwicklungshilfe auch in Grossbritannien in den letzten Jahren zum Politikum geworden ist. Der rechte Rand der konservativen Tories wettert gegen die Regierungspolitik ihrer eigenen Partei, 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Entwicklungshilfe aufzuwenden. Dieser Posten macht 13 Milliarden Pfund pro Jahr aus. Die Kritiker argumentieren nun, das sei so viel Geld, dass zwangsläufig viel zu viel Geld an Drittorganisationen wie Oxfam weitergeleitet werde, um das Budget aufzubrauchen. Dabei werde deren Arbeit weder beaufsichtigt noch genügend kontrolliert.
Das Gespräch führte Simon Leu.