Am Rande der kambodschanischen Küstenstadt Sihanoukville liegt ein riesiger Wohnkomplex: mehrere Hundert Meter lang, zehnstöckig, die Eingänge schwer bewacht, die Fenster der unteren Stockwerke vergittert. «China Project» wird die Siedlung genannt, in der Zehntausende Menschen für chinesische Game- und Betrugsfirmen arbeiten.
Manche versuchen, mit einem Sprung aus dem Fenster zu entkommen.
Die Strasse vor dem Wohnkomplex ist menschenleer. Vor allem Chinesen, aber auch Kambodschaner und Philippinos arbeiteten im Gebäudekomplex, erzählt ein Ehepaar, das in der Strasse einen Noodleshop betreibt. Manche, die es rausschafften, kämen in ihr Restaurant, ässen eine Suppe und erzählten ihre Geschichte.
Lebensgefährliche Flucht
«Einige Leute sagen, sie seien jahrelang da drin stecken geblieben. Andere versuchen, mit zusammengeknüpften Leintüchern oder einem Sprung aus dem Fenster zu entkommen.»
Wer es rausschaffe, sei dünn und blass, sagen die Nudelsuppen-Verkäufer. In den vergangenen Wochen berichteten mehrere kambodschanische Medien darüber, wie sich Menschen aus den Fenstern des Gebäudes in den Tod stürzten.
In einem einfachen Hotel am Rande von Phnom Penh wohnen vierzig Chinesen, die es in Sicherheit geschafft haben. Einer hat sich das Bein gebrochen, als er aus dem dritten Stock in die Freiheit sprang, sein Kollege brach sich den Rücken. Einige der Anwesenden sind nicht älter als 14. Alle kamen nach Kambodscha, weil sie hofften, hier mehr Geld verdienen zu können als in China.
Von einem Freund reingelegt
Ein Freund habe ihm versprochen, dass er in Sihanoukville in seinem Restaurant 3000 Dollar verdienen werde, erzählt ein 32-jähriger Chinese, den wir hier zu seinem Schutz Herrn Wang nennen.
Die chinesischen Behörden wollten ihm jedoch keinen Pass ausstellen, als er sagte, er werde nach Kambodscha reisen. Deshalb habe ihn sein Freund mithilfe von Menschenhändlern ins Land geholt. Doch in Sihanoukville wartete kein Job im Restaurant auf Herrn Wang, sondern sein Freund brachte ihn ins China Project, wo er zuerst ein Training habe absolvieren müssen.
Uns wurde deutlich gesagt, dass es sich um Betrug handelt.
«Sie haben uns gezeigt, wie wir mit den Leuten reden sollen und haben uns deutlich gesagt, dass es sich hier um Betrug handelt.» Wang wollte das nicht tun. Doch der Manager habe gesagt, man lasse ihn erst gehen, wenn er 10'000 Dollar (rund 9730 Schweizer Franken) zahle. Das sei für die Reise- und Übernachtungskosten.
Weil Wang das Geld nicht hatte, musste er fortan bis zu 16 Stunden pro Tag übers Internet Kunden für Online-Glücksspiele oder Frauen auf Partnerbörsen anwerben.
Diese Menschen seien Sklaven im wahrsten Sinn des Wortes, sagt Chen Baorong, der dieses und weitere Schutzhäuser leitet. Insgesamt gebe es etwa 200'000 Personen, die als Zwangsarbeiter für chinesische Online-Betrugsfirmen arbeiteten – kambodschanische Zeitungen schätzen die Zahl der gefangenen Angestellten auf einige Zehntausend Personen.
Sechs Monate als Sklave
Wang war sechs Monate im China Project eingesperrt. Dann wurde er krank und musste ins Spital. Als ihn seine Aufpasser einmal kurz alleine gelassen hätten, sei er geflohen. Seit vergangenem Juni lebt er nun im Schutzhaus von Baorong am Rande von Phnom Penh.
Die Angst, aufgespürt und zurück ins China Project gebracht zu werden, begleite ihn ständig. «Wie soll ich je wieder jemandem trauen können? Weshalb hat mich mein langjähriger Freund nach Kambodscha gelockt und dann verraten?» Er verstehe das nicht, sagt Wang.
Er hofft, dass er nun doch noch einen Pass von den chinesischen Behörden bekommt und bald zu seiner Frau und seinem Sohn zurückkehren kann.