Im August vor 400 Jahren kamen die ersten afrikanischen Sklaven auf dem nordamerikanischen Kontinent an. Die «New York Times» markieren diesen Jahrestag mit einem multimedialen Projekt, das in den USA Aufsehen erregt. Denn: Es will nichts weniger als die US-Geschichte neu schreiben. Hinter dem ambitiösen Projekt steht die 43-jährige Journalistin Nikole Hannah-Jones.
SRF News: Sie wollen die US-Geschichte neu erzählen. Was ist falsch an der bisherigen Darstellung?
Nicole Hannah-Jones: Wir erzählen unsere Geschichte wie die meisten Länder. Wir glorifizieren die Anfänge und versuchen, Sinn und Zweck unserer Nation zu erklären. Und die Rolle der Sklaverei fordert heraus. Sie enthüllt eine fundamentale Heuchelei. Wir behaupten, unser Land gründe auf Demokratie, individueller Freiheit und den Menschenrechten. Gleichzeitig war aber ein Fünftel der Bevölkerung in Gefangenschaft. Es ist schwierig, mit diesem Paradox umzugehen. Deshalb wird die Geschichte der Sklaverei heruntergespielt.
Wo zeigt sich heute, was Sie als «Gründer-Lüge» bezeichnen?
Heute dürfen zwar alle wählen gehen, aber die Neigung, grosse Wählergruppen – schwarze Amerikaner, Latinos und junge Wähler und Wählerinnen – taktisch von der Urne fernzuhalten, besteht fort.
Das Elektoren-System bei den Präsidentschaftswahlen sorgt dafür, dass die Mehrheit nicht notwendigerweise die Wahlen gewinnt.
Und allen, die wegen eines Verbrechens verurteilt wurden, wird das Wahlrecht entzogen, und das sind überproportional viele Schwarze. Auch das Elektoren-System bei den Präsidentschaftswahlen ist ein Relikt aus der Sklavenzeit, es sorgt dafür, dass die Mehrheit nicht notwendigerweise die Wahlen gewinnt.
Ist die Geschichte der Sklaverei und die Unterdrückung der schwarzen US-Bürger und Bürgerinnen nicht gut genug dokumentiert?
Doch, aber der Durchschnittsamerikaner weiss wenig darüber. Man hört oft, Sklaverei sei nicht viel anderes als weisse Knechtschaft, oder, dass auch Iren diskriminiert worden seien. Aber Diskriminierung ist nicht dasselbe wie Sklaverei. Zwar ist bekannt, dass es Sklaverei gab, sonst liesse sich die Existenz von 40 Millionen Schwarzen in den USA nicht erklären. Weit verbreitet ist aber die Theorie, dass nach dem Bürgerkrieg 1865 die Diskriminierung endete.
Sie sagen, das Erbe der Sklaverei sei in fast allen Bereichen des Lebens in den USA sichtbar. Warum?
Wir zeigen in unseren wissenschaftlichen Essays, wie die Sklaverei in unerwartete Gebiete hineinwirkt, zum Beispiel in der Gesundheitspolitik. Der Grund, weshalb die USA das einzige industrialisierte Land sind, das keine allgemeine Krankenversicherung kennt, geht auf die Sklaverei zurück.
Das Projekt 1619 wird heftig kritisiert. Untergraben Sie die Legitimität der US-Geschichte?
Nein, natürlich nicht. Ich schreibe ja nicht, dass die Ideale der US-Verfassung falsch sind, sondern dass die Verfassungsgründer nicht an sie glaubten.
Thomas Jefferson hielt 130 Sklaven, als er die Unabhängigkeitserklärung schrieb.
Das lässt sich nicht abstreiten. Thomas Jefferson hielt 130 Sklaven, als er die Unabhängigkeitserklärung schrieb.
Das ist eine happige Aussage.
Ja, sicher, aber sehen Sie: Ich bin 43 Jahre alt. Sieben Jahre, bevor ich zur Welt kam, durfte man Schwarze in den USA noch legal diskriminieren.
Wir leben nicht in einem weissen Land.
Uns zu sagen, wir dürften unser Land nicht kritisieren, das uns unsere Rechte bis vor fünfzig Jahren verweigert hat, ist lächerlich. Von dem Moment an, als weisse Europäer den Kontinent betraten, der von Indianern bevölkert war, und Schwarze importierten, waren wir ein multi-ethnisches Land.
Das Gespräch führte Isabelle Jacobi.