Die Brüskierung von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Ankara gibt weiterhin zu reden. Sie erhielt nur einen Sofaplatz, während EU-Ratspräsident Charles Michel auf dem Sessel neben Gastgeber Recep Tayyip Erdogan zu sitzen kam. Der frühere Diplomat Paul Widmer ordnet die Szene ein.
SRF News: Wie deuten Sie die Szene mit dem fehlenden Stuhl?
Paul Widmer: Das war ein unübliches Bild. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen ist eine sehr wichtige Person. Dass sie auf ein Sofa abgeschoben wird – wie der türkischen Aussenminister, der eindeutig nicht den gleichen Rang hat – war merkwürdig. Allerdings ist die Stellung der Kommissionspräsidentin nicht ganz klar. International gesehen ist sie kein Staatsoberhaupt. Diesbezüglich hat Ratspräsident Michel eine andere Stellung. Vom Faktischen her ist sie aber eine mindestens so wichtige Position. Hier hätte man eindeutig die protokollarischen Fragen vorher aufs Genaueste festlegen müssen.
Dürfte so etwas gar nicht passieren?
Ganz sicher nicht. Denn das Protokoll ist sehr wichtig, auch wenn das viele Leute nicht so sehen. Das Protokoll ist Politik. Es prägt das, was nachher besprochen wird: Das Protokoll ist ein Minenfeld. Von aussen sieht alles ganz unproblematisch aus, doch wehe, man macht einen Fehltritt. Dann geht die Sprengladung hoch.
Das Protokoll ist Politik. Es prägt das, was nachher besprochen wird.
Wollte Erdogan die EU-Kommissionspräsidentin demütigen?
Das kann ich nicht sagen. Rational betrachtet, würde es keinen Sinn ergeben. Denn wenn die Türkei Gespräche auf höchster Ebene führen will, möchte sie ein günstiges Umfeld schaffen. Umgekehrt stelle ich fest, dass sich Erdogan nicht zum ersten Mal so verhalten hat, dass man sich fragt, wo da die Vernunft geblieben ist.
Welchen Eindruck bekamen Sie als Diplomat vom türkischen Präsidenten?
Dass er ein Mensch ist, der sich relativ wenig darum kümmert, wie die anderen auf ihn reagieren. Protokollarische Fragen sind für ihn zweitrangig. Auch die Diplomaten, die ihn damals beraten haben, zitterten. Sie wussten, dass er sich nicht unbedingt an ihre Empfehlungen hält.
Wie ist die Reaktion von Kommissionspräsidentin von der Leyen zu beurteilen?
Sie war in einer sehr schwierigen Situation. Sie hätte eine Szene machen können. Aber ich glaube, das wäre nicht gut gewesen. Aus meiner Sicht hat sie sich sehr vernünftig verhalten. Sie hat gezeigt, dass sie die unkorrekte Behandlung wahrnimmt, aber gleichzeitig betont, dass es um die inhaltliche Diskussion geht. Aber nachher muss natürlich eine solche Situation aufgearbeitet werden. Besser wäre es gewesen, wenn man alles im Voraus korrekt abgesprochen hätte, was ja der Sinn des Protokolls ist.
Die EU-Kommissionspräsidentin hat sich sehr vernünftig verhalten.
Ist der diplomatische Umgang generell ruppiger geworden?
Zweifelsohne. Vor einiger Zeit wäre es unmöglich gewesen, dass ein US-Präsident einen anderen Präsidenten öffentlich einen «Killer» nennt, wie das gerade Joe Biden bei Putin gemacht hat. Protokoll und Zeremoniell nehmen allgemein ab. Ein Grund ist natürlich die Digitalisierung und die Beschleunigung der Kommunikation.
Man kann heute den diplomatischen Verkehr nicht mehr mit einer Note beginnen, die festhält, dass ein Staat sich beehrt, dem anderen etwas mitzuteilen und sich am Schluss nochmals mit Formeln bedankt. Heute ist der Kontakt häufig direkt von Desktop zu Desktop. Und da passiert natürlich Vieles, was früher so nicht geschehen wäre.
Das Gespräch führte Sandro Della Torre.