SRF News: In immer mehr Ländern haben die sozialdemokratischen Parteien in den letzten Jahren Wähler verloren. Klaus Armingeon, woran liegt das?
Klaus Armingeon: Das betrifft nicht alleine die Sozialdemokraten, sondern fast alle grossen Parteien. Sie verlieren ihre Stammwählerschaft. Die Christdemokraten etwa die kirchengebundenen Katholiken auf dem Land, die Sozialdemokraten die Industriearbeitsschaft. Diese lebten in soziokulturellen Milieus, in denen ohne viel Nachdenken klar war, dass man beispielsweise als gewerkschaftlich organisierter Industriearbeiter sozialdemokratisch wählt.
Sobald sich solche Milieus auflösen, schweben die Wähler sozusagen frei herum – wie Atome. Oft haben sie keine vertrauenswürdigen Eliten mehr – der Gewerkschaftsführer oder der Priester – die ihnen Wahlvorschläge machen. Und oft haben sie keine Zeit oder kein Interesse, sich zu informieren und bleiben zu Hause.
Gerade bei bildungsfernen Wählern ist dies ein Problem, was den Sozialdemokraten viele Stimmen nimmt. Wenn diese Bürger dennoch stimmen gehen, dann haben Parteien eine gute Chance, die deren Sorgen offenbar aufnehmen und einfache Antworten bieten. Inzwischen haben beispielsweise die Sozialdemokraten in Europa die Arbeiter als ihre wichtigste Wählergruppe verloren.
Wie mache ich als Partei eine Politik, die sowohl dem Informatiker, der Verkäuferin und dem Lehrer passt?
Wenn die sozialdemokratischen Parteien keine Arbeiterparteien mehr sind, wen vertreten sie dann?
Die gut qualifizierten Arbeitnehmer, die Humandienstleister im tertiären Sektor, etwa Pflegepersonal, Lehrer oder Sozialarbeiterinnen. Also eigentlich die Mittelschicht. Im Dienstleistungssektor gibt es aber auch noch andere Arbeitnehmergruppen, zum Beispiel schlecht qualifiziertes Servicepersonal oder Beschäftigte im High-Tech-Bereich. Auch diese will und muss die Sozialdemokratie gewinnen.
Das Problem ist, dass diese neue Wählerschaft sehr viel heterogener als die vorherige ist, ihre Sorgen und Lebensumstände unterscheiden sich beträchtlich. Wie aber mache ich nun als Partei eine Politik, die sowohl dem Informatiker, der Verkäuferin und dem Lehrer passt?
Die Überwindung des Kapitalismus ist schlicht und einfach nicht mehrheitsfähig.
Die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe sagt: «Anstatt das System herauszufordern, haben sich die Sozialdemokraten zum aktiven Teil dieses Systems gemacht.» Stimmen Sie dem zu?
Zunächst haben sich die Sozialdemokraten schon vor 100 Jahren vom Ziel der revolutionären Beendigung des Kapitalismus abgewandt und eine Strategie der sozialen Reformen im Kapitalismus verfolgt. Geblieben ist ihnen aber ein beträchtliches Misstrauen gegenüber der Effizienz und Gerechtigkeit des Marktes. Deshalb befürworteten sie korrigierende und ausgleichende Staatseingriffe in die Wirtschaft und Gesellschaft.
Seit den 1990er Jahren haben sich einige Sozialdemokraten aber vom Misstrauen in den Markt verabschiedet und eine wirtschaftsliberale Politik übernommen. Eingeführt haben diesen Richtungswechsel etwa Tony Blair in Grossbritannien oder Gerhard Schröder in Deutschland im Zuge der «Modernisierung» der Sozialdemokratie.
Das war de facto die Abkehr von einer sozialdemokratischen hin zu einer liberalen Wirtschaftspolitik. Anstatt weiterhin zu sagen: Wir glauben nicht, dass der freie Markt ohne Eingriffe zu einer gerechteren Gesellschaft führt, hiess es danach: Wir vertrauen dem Markt.
Mit Kontrapunkten zum Wirtschaftsliberalismus gelingt es alten Herren, junge Wähler zu begeistern.
Trotzdem wird den Sozialdemokraten immer wieder vorgeworfen: Ziele wie dem Klassenkampf oder die Überwindung des Kapitalismus seien schlichtweg veraltet.
Klar, die Überwindung des Kapitalismus ist schlicht und einfach nicht mehrheitsfähig. Aber sehr wohl kann man weiterhin sagen, man habe kein Vertrauen in die Leistungsfähigkeit und Gerechtigkeit des freien Marktes und müsse deshalb wirtschafts- und sozialpolitisch korrigierend eingreifen. Solche Programmatiken und Visionen stossen durchaus auf das Interesse der Wählerinnen und Wähler.
Die Politiker Bernie Sanders in Amerika, Jeremy Corbyn in Grossbritannien und Jean-Luc Melenchon in Frankreich waren damit kürzlich sehr erfolgreich. Diese alten Männer begeisterten mit einer Politik die jungen Generationen, indem sie einen Kontrapunkt zum Wirtschaftsliberalismus setzten – freilich mit Politikvorschlägen, die aus den 1960er Jahren stammten.
Aber das könnte ein Hinweis für sozialdemokratische Politiker sein, dass es sich auch wählermässig lohnt, einen aktiv intervenierenden Staat zu fordern – wobei dann die Politiken auch innovativ sein müssten. Damit würden sie eine Vision bieten und die alten sozialdemokratischen Werte wieder in den Vordergrund stellen, etwa die aktive Gestaltung der Gesellschaft.
Gleichzeitig mit dem «Untergang» der Sozialdemokraten in Europa ist ein Erstarken von rechtspopulistischen Parteien zu erkennen, woran liegt das?
Rechtspopulistisch heisst im Grunde ja, ein tiefes Misstrauen gegen die herrschende «classe politique», die «da oben» zu haben, die den einfachen Mann nicht mehr verstehen und nur ungerechtfertigte Vorteile aus ihrer Position ziehen. Und es geht zweitens um die Rechte und Vorrechte der im Lande geborenen Menschen.
Rechtspopulistische Parteien bieten sich für jene Wähler an, die mit der herrschenden Politik unzufrieden sind, weil sie sich mit ihren Ängsten und Sorgen, etwa der Konsequenzen der Globalisierung, alleine gelassen fühlen. Das betrifft besonders die weniger qualifizierten Arbeitnehmer, für die die Globalisierung keine Chance, sondern eine Bedrohung – ihrer Jobs, ihrer Einkommen, ihrer Lebensqualität und ihres sozialen Status – darstellt.
Viele, gerade auch die alte Arbeiterschaft, die früher sozialdemokratisch wählte, fühlen sich durch Slogans wie «America first» oder «les Français d'abord» ernst genommen und sie fühlen sich in ihrem Ärger über die «classe politique» durch diese Politiker gut vertreten. Inzwischen sind wahlsoziologisch gesehen in Europa nicht mehr die Sozialdemokraten, sondern die rechtspopulistischen Parteien die Arbeiterparteien unserer Gesellschaft.
Was können die Sozialdemokraten dem entgegensetzen?
Die rechtspopulistischen Parteien verändern den politischen Wettbewerb, das ist eine riesige Herausforderung. Die grossen Parteien haben es teilweise verpasst, die Sorgen der Bevölkerung aufzunehmen. So wird beispielsweise gerade auf der linken Seite die Ausländerfrage gerne vollständig vermieden und negative Aspekte der Migration totgeschwiegen. Aber darüber müsste man diskutieren und dann eben auch positive Aspekte wie die Querfinanzierung der AHV durch Ausländer kommunizieren und im vernünftigen Diskurs gewichten.
Das Gespräch führte Anna Berger.