Willy Brandt hat Zeit. Viel Zeit. In Bronze steht der Altkanzler im Atrium der SPD-Parteizentrale, streckt seine Hand aus, eine väterliche Geste. Schon zu Lebzeiten war sein Zeitgefühl etwas anders, Schwermut plagte den Kanzler, Traurigkeit. Legendär ist der Satz seines Kanzleramtsministers: «Willy, aufstehen, wir müssen regieren!» Mit einer Flasche Rotwein schafften es die beiden dann, aufzustehen und zu regieren.
Kanzler Olaf Scholz kam heute eine halbe Stunde zu spät zum Pressetermin, weil er regierte – und das gerade nicht einfach ist. Geladen im Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale, waren Gewerkschafter, einer aus der Stahlbranche. Sie klagten laut. Es müsse nicht morgen oder übermorgen etwas geschehen, sondern heute schon, jetzt sofort. Die hohen Energiepreise erdrosselten die Industrie, es stünde schlecht, sehr schlecht. Scholz stellte diesen Klagen einen sogenannten «Made in Germany»-Bonus entgegen. Investitionen von Firmen sollen teilweise von der Steuer abgezogen werden können. Man wolle, sagte der Kanzler, dabei helfen, dass die deutsche Industrie auch in 30 Jahren noch an der Weltspitze sei.
Warum präsentiert Scholz seine Lösungen erst jetzt?
49 Tage vor der Wahl sagt der Kanzler das – in einem Moment, in dem die Umfragewerte seiner Partei tief sind, sehr tief, und sogar noch sinken. Warum hat der Kanzler das nicht schon vor einem Jahr gesagt, oder vor zwei? Warum wirkt der Kanzler kraftlos, regierungsmüde? Denn die Klagen der Wirtschaft sind nicht neu. Und es sind ja mehr als Klagen, es sind Fakten. Die deutsche Wirtschaft wächst nicht mehr, der Druck aus Fernost etwa ist riesig. In der Stahlindustrie wissen sie nicht mehr, wie sie Gewinne erwirtschaften sollen – und die hohen Energiepreise wirken da wie Sargnägel.
Heute also präsentierte die SPD ihre Strategie, wie man die CDU von Friedrich Merz doch noch einholen könnte. Merz liegt bei über 30 Prozent, die SPD hat kaum die Hälfte. Auf den Plakaten stellt die SPD die Menschen ins Zentrum, die Wirtschaft. Ohne SPD keine sicheren Renten, ohne SPD keine sicheren Jobs. Matthias Miersch, der Generalsekretär, spricht von einer Richtungsentscheidung.
Am Ende war es «alle gegen alle» – und Scholz scheiterte als Kanzler
Eine Richtungsentscheidung nämlich ergab die letzte Wahl nicht. SPD, Grüne und FDP versuchten es zusammen, doch eine gemeinsame Richtung war je länger, desto weniger erkennbar. Am Ende war es «alle gegen alle», das Chaos gross. Und es endete im Rauswurf von FDP-Chef Lindner und seiner Partei aus der Regierung. Viele Menschen in Deutschland erleben das Regierungshandeln in Berlin als zerstritten, fahrig, unseriös. Und wenden sich zum Beispiel der AfD, der Alternative für Deutschland, zu. Die mit einfachen Antworten vermeintlich einfache Lösungen verspricht. Die bei vielen Menschen genau das Gefühl abholt: Nichts funktioniert mehr, alles zerfällt.
Wenn es so kommt, wie alle denken, dann wird die CDU diese Wahl am 23. Februar gewinnen – und die SPD als Juniorpartnerin einsteigen in eine grosse Koalition. Das wäre natürlich alles andere als eine Richtungsentscheidung, sondern eine Kompromissmaschine. Aber sie muss funktionieren – alles andere pusht die Extreme, rechts und links.
Es hilft nichts: Deutschlands Kanzler muss aufstehen und regieren, so wie es einst Willy Brandt auf Bitte seines Kanzleramtschefs doch noch tat. Diesmal bleibt nicht viel Zeit.