Schwere Spannungen überschatten das heutige Treffen zwischen der EU und der Türkei in der bulgarischen Stadt Warna. Präsident Recep Tayyip Erdogan wird nicht mit leeren Händen nach Hause fahren wollen. Ob ihm EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker angesichts der Lage in der Türkei Zugeständnisse anbieten können, ist allerdings fraglich – zu lang ist die Liste der Streitpunkte, zu gering sind die Aussichten, diese beizulegen.
Die Differenzen im Überblick
Das Flüchtlingsabkommen: Im Mittelpunkt dürfte heute das Flüchtlingsabkommen stehen, das die EU mit der Türkei 2016 getroffen hat.
Die Türkei ist der Meinung, alle Punkte erfüllt zu haben. Es seien deutlich weniger Flüchtlinge nach Europa gekommen und die Türkei habe wie vereinbart auch Flüchtlinge aus Griechenland zurückgenommen. Doch die EU zögere die versprochenen Zahlungen für die Flüchtlingsversorgung hinaus, kritisiert Erdogan. Er droht mit der Aufkündigung des Abkommens. Die EU weist die Vorwürfe zurück. Projektplanungen durch Hilfsorganisationen nähmen oft viel Zeit in Anspruch. Zudem habe die zuständige EU-Behörde bereits einen Vorschlag gemacht, wie nach einem ersten Hilfspaket von drei Milliarden Euro eine Zahlung von weiteren drei Milliarden finanziert werden könne.
Beide Seiten haben ein grosses Interesse, dass am Flüchtlingsabkommen festgehalten wird.
«Zumindest in diesem Punkt könnte es heute tatsächlich eine Einigung geben, denn beide Seiten haben ein grosses Interesse, dass am Flüchtlingsabkommen festgehalten wird», schätzt Journalistin Karin Senz in Istanbul.
Visafreiheit für Türkinnen und Türken: Im Zuge des Flüchtlingsabkommens hat die EU der Türkei versprochen, die Visapflicht für ihre Staatsbürger aufzuheben, sofern sie ihre Anti-Terrorgesetze abschwäche und 72 Bedingungen erfülle. Nun hat Ankara Brüssel Anfang Februar dargelegt, wie es die Bedingungen zu erfüllen gedenkt. Die Visafreiheit ist laut Senz für viele Türken wichtig. «Sie möchten endlich ohne Visa in die EU einreisen können, beispielsweise nach Deutschland, wo drei Millionen Türken leben.» Verwandte aus der Türkei müssten sehr viel bezahlen und auf sich nehmen, um sie besuchen zu können. «Könnte Erdogan die Visafreiheit durchsetzen, wäre das ein sehr grosser Erfolg für ihn», erklärt Senz.
Könnte Erdogan die Visafreiheit durchsetzen, wäre das ein sehr grosser Erfolg für ihn.
Ob es in diesem Streitpunkt zu einer Einigung kommen könnte, ist laut Senz noch völlig offen, denn die zuständige EU-Kommission hat sich dazu noch nicht geäussert. Aus EU-Kreisen heisst es, auf dem Papier mache die Türkei weitreichende Zugeständnisse. Es gebe aber Zweifel, ob die Türkei die Regeln auch umsetzen werde. «Aus Brüssel hört man immer wieder, Zugeständnisse an Ankara wären in den EU-Mitgliedsländern im Moment nur sehr schwer durchzusetzen», sagt Senz.
Erweiterung der Zollunion: An einem Ausbau der Zollunion haben sowohl Brüssel wie auch Ankara ein grosses wirtschaftliches Interesse. Verhandlungen sollten eigentlich bereits Ende 2016 beginnen, bislang haben die europäischen Staaten der EU-Kommission aber kein Verhandlungsmandat erteilt.
Die Türkei ist nicht Erdogan.
Auch hier sind die Chancen auf eine Einigung eher gering. Angesichts des Vorgehens türkischer Behörden gegen Menschenrechtler, Journalisten und Oppositionelle gibt es von den EU-Ländern weiter grossen Druck, keine Verhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. EU-Kommissar Johannes Hahn warnte Anfang des Jahres allerdings vor einer starren Haltung, denn damit würden die proeuropäischen Türken vergrault. Er betonte: «Die Türkei ist nicht Erdogan.»
EU-Beitrittsgespräche: Die EU-Staaten haben den Beitrittsprozess im Dezember 2016 wegen der Ereignisse nach dem Putschversuch in der Türkei bis auf weiteres gestoppt. Erdogan hält jedoch weiterhin an einem Beitritt zur EU fest – auch weil laut Umfragen mindestens die Hälfte der türkischen Staatsbürger dahinter stünden, so Senz. «Allerdings sind die Türken auch sehr enttäuscht.» Sie sagen, die Türkei habe viel für den Beitritt getan, doch Brüssel habe sie über Jahrzehnte hingehalten. «Das nehmen viele Türken der EU übel.» Kurz vor dem Treffen hat Erdogan nochmals bekräftigt, der festgefahrene Beitrittsprozess solle wiederbelebt, ja sogar ausgeweitet werden. In diesem Rahmen sei man auch bereit, über Themen wie Grundrechte und Unabhängigkeit der Justiz zu reden, heisst es aus Ankara.
Die Türken sind auch sehr enttäuscht von der EU.
Bewegung in der verfahrenen Situation ist nicht zu erwarten. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz verlangte im Vorfeld des Treffens sogar, die Beitrittsgespräche mit der Türkei ganz abzubrechen. Die Türkei entferne sich seit Jahren von der EU und ihren Werten, sagte er in der Sonntagspresse.
Anti-Terror-Kampf und Menschenrechte: Aus Sicht Ankaras fallen nicht nur die Offensive gegen die kurdische Miliz YPG in Syrien, sondern auch die Inhaftierung kritischer Journalisten und Oppositionspolitiker unter den Kampf gegen den Terrorismus. Das sieht die EU anders, sie warnt vor einem Verfall der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und sieht die Wahrung der Menschenrechte in Gefahr. Gleichzeitig fordert Ankara von EU-Staaten ein schärferes Vorgehen gegen Anhänger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und der Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich macht.
Auch in diesem Punkt ist keine grosse Annäherung zu erwarten. Die Türkei verbittet sich Belehrungen über Rechtsstaatlichkeit. Seit dem Putschversuch und der anschliessenden Verhängung des Ausnahmezustands argumentiert sie, die Terrorgefahr sei so gross, dass ein hartes Vorgehen geboten sei.
Die türkische Offensive im syrischen Afrin: Die Türkei geht seit dem 20. Januar im nordwestsyrischen Afrin gegen die Kurdenmiliz YPG vor. Sie sieht die Gruppe wegen ihrer engen Verbindungen zur verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK als Terrororganisation und begründet den Einsatz mit Selbstverteidigung. In der EU wird der Einmarsch in Syrien allerdings äusserst kritisch gesehen – manch einer hält ihn sogar für völkerrechtswidrig.
Eine Einigung in diesem Punkt ist nicht in Sicht. Erdogan hat bereits angekündigt, die Operationen gegen die YPG auszuweiten. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dagegen erklärte letzte Woche, er werde sich niemals hinter ein Eindringen in einen souveränen Staat stellen.