In den Niederlanden steigen die Corona-Ansteckungen rasant an. Allein am Mittwoch wurden fast 5000 Neuansteckungen gemeldet. Und das bei knapp doppelt so vielen Einwohnern wie der Schweiz. Deshalb werden jetzt die Corona-Massnahmen verschärft: Bars und Restaurants müssen um 22 Uhr schliessen, von Reisen wird abgeraten. Der Regierung sei die Lage wohl entglitten, sagt SRF-Mitarbeitern Elsbeth Gugger in Amsterdam.
SRF News: Wie konnte die Situation derart ausser Kontrolle geraten?
Elsbeth Gugger: Die Regierung hat die Lage wohl unterschätzt und sich im Sommer zu stark zurückgelehnt im Glauben, es komme alles gut. Ausserdem liessen sich die vielen Schulabgänger ihre Abschlussreisen im Ausland nicht nehmen. Viele fuhren nach Spanien und Frankreich, von wo sie das Coronavirus zurückbrachten. Die Gesundheitsbehörden machen denn auch sie für die anrollende zweite Pandemiewelle verantwortlich.
Die Behörden machen die ins Ausland gereisten Schulabgänger für die zweite Pandemiewelle verantwortlich.
Jetzt empfiehlt die Regierung dringend, in den Städten eine Maske zu tragen. Halten sich die Jungen daran?
Ein Grossteil hält sich sicher daran. Doch viele Jugendliche feiern Abend für Abend ihre Partys. Dort werden weder Masken getragen noch Sicherheitsabstände eingehalten. Doch nicht nur die Jugendlichen halten sich zum Teil nicht an die Massnahmen.
Eine freikirchlich-evangelikale Glaubensgemeinschaft hielt Gottesdienste mit Hunderten Personen ab – ohne jeglichen Schutz.
Auch in den Niederlanden gibt es die notorischen Corona-Lügnerinnen und Lügner, die regelmässig ihre Protestdemos ohne Mundschutz und Abstände abhalten. Für Empörung sorgte am Wochenende ausserdem die Nachricht, dass sich eine freikirchlich-evangelikale Glaubensgemeinschaft dreimal mit je 600 Leuten zum Gottesdienst getroffen hat – ohne Gesichtsschutz und Abstand. Dazu sangen sie lauthals ihre Psalmen.
Ist der niederländischen Regierung die Kontrolle der Lage entglitten?
Bis zu einem gewissen Grad – ja. Das hat auch mit ihrer Hüst-und-Hott-Politik zu tun, was die Corona-Massnahmen angeht. Der Grund liegt wohl am Chef der Gesundheitsbehörde, der noch immer sagt, es gebe keine wissenschaftlichen Beweise, dass ein Mund-Nasenschutz etwas nütze. Auch warten die Niederländerinnen und Niederländer noch immer auf eine Corona-App, ihre Einführung wird immer wieder verschoben.
Die Niederländer warten noch immer auf eine Corona-App.
Wie gut ist das Gesundheitssystem auf die kältere Jahreszeit mit zusätzlichen Grippekranken vorbereitet?
Das ist die Frage. Immerhin hiess es in den letzten Tagen, es gebe jetzt genügend grosse Corona-Testkapazitäten. Die Spitäler sind daran, die nicht unbedingt nötigen Operationen zu verschieben. Davon ist in Amsterdam bereits jeder fünfte dieser Eingriffe betroffen. Auch sagen viele Pflegende, sie hätten sich noch nicht von der starken Belastung der ersten Corona-Welle im Frühling erholt.
Viele Gastro-Betreiber befürchten im Fall eines zweiten Lockdowns den Ruin.
Wird allenfalls ein zweiter Lockdown in Erwägung gezogen?
Einen solchen möchte die Regierung möglichst vermeiden, denn trotz massiver Unterstützung der Wirtschaft gingen seit dem Frühling rund 180'000 Stellen verloren, das sind rund sieben Prozent aller Jobs. Trotzdem werden verschiedene Szenarien diskutiert: eine Einstellung des öffentlichen Verkehrs, Schulschliessungen oder die Schliessung der Bars und Restaurants. Doch gerade das Gastgewerbe wehrt sich seit Tagen dagegen. Viele Betreiber befürchten den Ruin im Falle eines zweiten Lockdowns.
Das Gespräch führte Lillybelle Eisele.