Es ist still geworden in Deutschland. Natürlich, die News-Maschine dreht sich noch immer: Welche «Privilegien» erhalten diejenigen, die geimpft sind? Das hat einen Anflug von ADHS im Impf-Entwicklungsland. Das ZDF zeigt in den News-Sendungen unbeirrt unzählige geimpfte Oberarme. Notfalls aus dem Ausland.
Dennoch: Es ist still geworden in Deutschland. Ich sehe das Bundeskabinett vor meinem geistigen Auge: Schweigend in ihren braunen Sesseln am grossen, ovalen Kabinettstisch. Erschöpft. Nicht einmal der hölzerne Optimismus von SPD-Vizekanzler Olaf Scholz hilft. In einem Gespräch mit Seelsorgediensten sagte Kanzlerin Merkel unlängst: «Wir versuchen jetzt, die Brücken zu bauen, aber wir wissen auch nicht, wohin wir die genau bauen. Also, das Ufer sehen wir ja auch nicht.»
Deutschland reif für die Insel
Es ist still geworden in Deutschland. Eine dritte Welle baut sich auf, die Lockerungen werden zurückgenommen werden müssen. Ungläubig bestaunt das Land sein Scheitern in der Pandemie.
Leise klappert die Maschinerie der Bürokratie im Leerlauf. Nach Mallorca darf man in den Urlaub reisen, in den Schwarzwald nicht. Denn die Inzidenzwerte sind auf den Balearen tiefer als in Deutschland. Die Verimpfung von Astra-Zeneca wurde in Deutschland für zwei Tage ausgesetzt: Dass man in zwei Tagen mehr weiss als vor zwei Tagen, darf man ungeimpft infrage stellen. Dafür kommt jetzt ein Warnhinweis auf den Beipackzettel.
«Der kranke Mann Europas»
Bundespräsident Steinmeier hat die Biontech-Gründer Özlem Türeci und Uğur Şahin am Freitag mit dem «Grossen Verdienstkreuz mit Stern» ausgezeichnet. Sein Lob über ihren Mut, Einsatz und ihre Weitsicht hörte sich wie eine Mängelliste des staatlichen Krisenmanagements an
Diese Stille in Deutschland ist vielleicht auch die Stille, bevor die CDU mit einem lauten Knall abgewählt wird.
Aber hoffentlich ist es vor allem die Stille vor dem Schuss. Vor 20 Jahren war Deutschland der «kranke Mann Europas», wie «The Economist» 1999 schrieb. Mit der «Agenda 2010» kam die Volkswirtschaft überraschend schnell wieder auf die Beine. Für Deutschland, vor allem für seine Menschen war das eine schmerzhafte und notwendige Revolution von oben. Nach den Wahlen wird die neue Bundesregierung das Land erneut auf die Beine bringen müssen. Den Reformstau in der Infrastruktur, der Verwaltung und der Digitalisierung. Das wissen alle, egal, wer regieren wird.