Am Ende wird die Wissenschaft allen den Kopf und die Ehre retten – Forschungsergebnisse in Excel-Tabellen werden entscheiden, nicht Überzeugungen. Die Wissenschaft hat jetzt nämlich zu prüfen, ob die Gaskrise ohne Atomstrom zu meistern ist. Die Prinzipien der Aufklärung, sozusagen, werden gesichtswahrend über den Atomausstieg entscheiden. Von diesem gedanklichen Überbau aber zunächst auf die Ebene der Tagespolitik.
Die Meldung der Deutschen Presse-Agentur DPA lief am Montagabend um 16:40 Uhr über den Ticker und damit auf die Handys der Berliner Politikerinnen und Politiker: Gazprom senkt die Gaslieferungen auf 20 Prozent der Vorkriegs-Menge. Es wird jeden Tag weniger – und die Gaskrise damit jeden Tag ein bisschen grösser.
Das spielt allen in die Hände, welche die Laufzeit der drei verbleibenden deutschen Kernkraftwerke verlängern wollen – allen voran Friedrich Merz, Parteichef der CDU und damit Oppositionsführer. Schon am Sonntag sagte er im ZDF selbstbewusst: «Ich sage voraus, dass am Ende die Laufzeit der Kernkraftwerke verlängert wird.»
Die Grünen im Clinch
Die Ampel-Koalition ist da noch nicht so weit. Immerhin regieren die Grünen mit – und deren Markenkern ist der Atomausstieg – seit der Gründung im Januar 1980. «Atomkraft, nein danke!» war damals eine Vision, eine Verrücktheit, eine Unmöglichkeit. Und jetzt waren die Grünen fast am Ziel. Am 31. Dezember 2022 wären die Kernkraftwerke in Deutschland vom Netz gegangen, eine Ära, ein Zeitalter, eine Denkschule wäre zu Ende gegangen.
Doch jetzt wackelt das alles wieder. Wegen Putin, wegen seines Krieges in der Ukraine, wegen der Energiekrise. Kann man auf den Atomstrom wirklich verzichten? Wie viel Gas könnte eingespart werden, das sonst verstromt würde?
Was vor ein paar Wochen, eigentlich vor ein paar Tagen noch fast nicht denkbar war, rückt in der politischen Agenda immer weiter nach vorne. Man werde jetzt «ideologiefrei und ergebnisoffen» über die Atomkraft diskutieren, sagte Regierungssprecherin Christiane Hoffmann.
Ideologiefrei. Ergebnisoffen. Unmöglichkeit klingt anders.
Druck aus dem Ausland
Neben der innenpolitischen Ebene gibt es noch eine aussenpolitische. Die EU hat letzte Woche die Energie-Sparziele formuliert – und da regt sich Widerstand vor allem aus dem Süden. Warum solle man im Winter Energie sparen und frieren, wenn es doch die Deutschen waren, welche sich von russischem Gas abhängig und damit gleichzeitig reich gemacht haben? Die Retourkutsche aus der Finanzkrise.
Druck also von überall. Richten soll es jetzt der «Stresstest». Das Wirtschafts- und Klimaministerium lässt jetzt nochmals prüfen, ob die Lage wirklich so extrem werden könnte, dass es ohne Atomstrom nicht geht.
Wenn dann in den Excel-Tabellen steht: Es geht nicht ohne, dann wird Deutschland wohl kippen. Und die AKW noch ein bisschen laufen lassen, trotz der Gefahr, trotz des Atommülls. Ein wahrscheinlicheres Szenario gibt es derzeit nicht.