Gisela Ortiz heftet sich das Foto ihres ermordeten Bruders Luis Enrique mit einer Sicherheitsnadel ans T-Shirt. Längst ist es ein Ritual: Ihr Kampf um Gerechtigkeit begann, als dieser 1992 von den Todesschwadronen des ehemaligen Diktators Alberto Fujimori mitten in der Nacht aus der Universität La Cantuta entführt und ermordet wurde. Zusammen mit acht anderen Studenten und einem Dozenten.
Der Körper meines Bruders war der einzige, der noch ganz war.
«Es war schrecklich», erinnert sich Ortiz. «Wir fanden zunächst Leichenteile – Knochen, Haare, Fingernägel. Und dann den Körper meines Bruders. Er war der einzige, dessen Körper noch ganz war.»
Ein bisschen Ruhe gefunden
Schon während der Regierungszeit von Alberto Fujimori (1990 bis 2000) ging Ortiz auf die Strasse, protestierte für eine juristische Aufarbeitung. Erst als Fujimori dann schliesslich im Jahr 2009 zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde, konnte sie endlich «ein bisschen Frieden» finden.
Sie entschied sich, ein Kind zu bekommen – «vorher gehörte mein Leben meinem Bruder.» Auch war es eine späte Genugtuung, dass die Richter erklärten, dass Luis Enrique keiner subversiven Gruppe angehört habe.
Die Begnadigung, ein schmutziger Deal?
Doch die Ruhe hielt nicht lange: Im Dezember 2017 wurde Fujimori vom peruanischen Präsident begnadigt – aus «humanitären Gründen». Seitdem geht Ortiz wieder auf die Strasse, rollt Transparente aus, heftet sich das Foto ihres Bruders ans Shirt. Denn sie glaubt nicht, dass Fujimori wirklich sterbenskrank ist. «Wäre er das, würde ich die Begnadigung akzeptieren.»
Mit ihren Zweifeln ist Ortiz nicht alleine. Das medizinische Gutachten wurde der Öffentlichkeit bisher nicht vorgelegt. In der Kommission, die den Gesundheitszustand beurteilte, spielte einer von Fujimoris Leibärzten eine wichtige Rolle. Und hinter der Begnadigung könnte ein schmutziger Deal stecken.
Zwickmühle für den Präsident
Präsident Pedro Pablo Kuczynski wird der Korruption verdächtigt. Ende Dezember letzten Jahres entkam er knapp einem Amtsenthebungsverfahren. Dies dank der Enthaltung von Fujimoris Sohn Kenji und dessen Parteifreunden in einer Parlamentsabstimmung. Zwei Tage später, am 24.12.2017, wurde Alberto Fujimori begnadigt.
Abgesehen davon, dass der Korruptionsvorwurf nicht vom Tisch ist, steht Kuczynski nach der Begnadigung als Lügner da. «Er hat uns im Wahlkampf sogar schriftlich zugesichert, bestehende Urteile und Haftstrafen zu respektieren», sagt Gisela Ortiz.
Breite Kritik an Begnadigung Fujimoris
Auch international wird die Entscheidung hinterfragt und kritisiert – etwa vom Hochkommissar für Menschenrechte der UNO, von Human Rights Watch und Abgeordneten des Europaparlaments. Die Regierung reagierte darauf nicht, im Gegenteil: Als der peruanische Generalanwalt feststellte, die Begnadigung sei nicht verfassungskonform, wurde er kurzerhand aus dem Amt entfernt.
Noch hoffen Gisela Ortiz und andere Angehörige. In Peru gibt es jedoch nur noch ein Verfahren, das Fujimori gefährlich werden könnte. Die Richter müssen in diesen Tagen entscheiden, ob Fujimori wegen eines anderen Massakers zur Verantwortung gezogen werden kann. International wäre ein Einschreiten der interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (IAKMR) die letzte Möglichkeit, die Begnadigung Fujimoris rückgängig zu machen.
Sollte die Kommission Peru dazu auffordern, könnte dies den Präsidenten in eine Zwickmühle bringen: Käme Kuczyinski der Entscheidung der IAKMR nach, würde er bei einer Annullierung der Begnadigung im Inland das Gesicht verlieren. Käme er der Entscheidung nicht nach, verstiesse dies gegen internationale Abkommen. Dadurch wäre etwa die Möglichkeit einer OECD-Mitgliedschaft gefährdet, die für das Jahr 2021 angepeilt ist.
Fujimori könnte sich nach Japan absetzen
Bisher versuchte die peruanische Regierung mit allen Mitteln, die Begnadigung aufrecht zu erhalten. Als Generalanwalt Amado Enco sich dem entgegen stellte, wurde er kurzerhand vom Justizminister ausgetauscht. Fujimori könnte allerdings jeglichem Gerichtsentscheid zuvor kommen: Er besitzt die japanische Staatsangehörigkeit und könnte Peru verlassen.
«Wir kämpfen, bis Fujimori wieder hinter Gittern ist», sagt Gisela Ortiz. In ihrem Wohnzimmer an der Wand hängt das letzte Foto von Luis Enrique. Der Lehramtsstudent lehnt an einer Wand, darauf gemalt ein Zitat: «Lehrer zu sein, ist in Peru eine gefährliche Art zu Leben. Lehrer zu sein, ist in Peru eine vortreffliche Art zu sterben.»