Nur wenige Tage nach der Einsetzung einer neuen Regierung in Afghanistan kam es zu einem heftigen Streit zwischen den Führern der Taliban, wie die BBC berichtet. Anhänger zweier rivalisierender Fraktionen sollen sich im Präsidentenpalast geprügelt haben. Islamwissenschaftler Reinhard Schulze über die Hintergründe und den Machtkampf innerhalb der Taliban.
SRF News: Was wissen Sie über die Vorfälle?
Reinhard Schulze: Offenbar gab es einen Streit zwischen dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Abdul Ghani Baradar und einem Mitglied der Hakkani. Dabei sind offenbar Schüsse gefallen. Ob Baradar dabei verletzt worden ist, ist aktuell nicht bestätigt.
Konventionell könnte man sagen, dass die alte Front, die Kandahar-Front, stärker ist, da sie sozial stärker abgesichert ist.
Was weiss man über diese beiden Lager?
Zum einen gibt die Baradar-Fraktion, welche das Erbe der alten Taliban aus den 90er-Jahren hochhalten möchte, mit der Hauptstadt Kandahar im Süden Afghanistans. Auf der anderen Seite gibt es die Hakkani-Fraktion, welche aktuell in Kabul das Sagen hat. Diese Fraktion hat sich erst vor 15 bis 16 Jahren in das Umfeld der Taliban eingenistet.
Gibt es eine stärkere, beziehungsweise eine schwächere Front?
Konventionell könnte man sagen, dass die alte Front, die Kandahar-Front, stärker ist, da sie sozial stärker abgesichert ist. In letzter Zeit aber haben sich die Hakkani, nicht zuletzt auch wegen der ländlichen Einwanderung nach Kabul, sehr viel stärker positionieren können.
Was ist das Ziel der Hakkani?
Die Regierung der Taliban soll eine Taliban-Regierung sein. Kabul soll als Hauptstadt fungieren, die ländlichen Paschtunen sollen ebenfalls vertreten sein. Die ländlichen Lebensweisen generell sollen geschützt werden. Zudem sollen auch auswärtige Mitstreiter geschützt werden, welche nach Afghanistan gekommen sind und dort separate Gemeinschaften gebildet haben – Al-Kaida als Beispiel.
Gemäss den Amerikanern waren es vor allem die Hakkani, welche die Al-Kaida in Afghanistan beheimatet hatten, was historisch sicher auch korrekt ist.
Was ist das Ziel der Baradar-Fraktion?
Dazu gehört die Elite der Paschtunen, welche ihr Hauptquartier in Kandahar hat. Diese ist sehr städtisch orientiert. Man ist interessiert, Afghanistan so weit wie möglich auch in der Regierung abgebildet zu sehen, auch andere ethnische Gemeinschaften sollten in der Regierung mitvertreten sein.
Wie sieht es bezüglich internationaler Unterstützung der beiden Fraktionen aus?
Gemäss den Amerikanern waren es vor allem die Hakkani, welche die Al-Kaida in Afghanistan beheimatet hatten, was historisch sicher auch korrekt ist. Die Amerikaner erklären, dass man die Hakkani-Front von den Taliban lösen müsse, um eine Taliban-Fraktion zu haben, mit welcher man auch verhandeln könne.
Von welchen Ländern werden die beiden Fraktionen unterstützt?
Der Iran hat grosses Interesse daran, dass die Baradar-Front – also die Kandahar-Front – an die Macht kommt, weil diese Fraktion auch die schiitischen Gemeinschaften in der Region abgebildet haben möchte. Auf der anderen Seite haben wir Pakistan. Dessen Afghanistan-Politik ist äusserst dubios. Man hat den Eindruck, dass das Land ein Interesse daran hat, die Hakkani unter Kontrolle zu bekommen. Möglicherweise glaubt auch der militärische Geheimdienst ISI, welcher als Ziehvater der Taliban gilt, dass er Afghanistan ein Stück weit noch kontrollieren kann.
Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Konflikt noch verstärken wird?
Der Konflikt hat Eskalationspotenzial. Es hängt nun vieles davon ab, ob eine der beiden Seiten die Zivilgesellschaft für sich gewinnen kann. Eine Unbekannte sind die Taliban-Fraktionen im Norden und im Osten von Afghanistan.
Das Gespräch führte Pascal Nufer.