Am russischen Staatsfernsehen ist in diesen Tagen viel die Rede von einer «humanitären Katastrophe», die sich im Nordosten Syriens anbahne. Die türkische Armee greift kurdische Einheiten an, der syrische Machthaber Assad schickt Truppen, die Amerikaner dagegen sind schon abgezogen. Es ist eine unübersichtliche Lage – nicht nur für den durchschnittlichen russischen Fernsehzuschauer.
Russland, der heimliche Kriegsgewinner
Hinter den Mauern des Kremls dagegen dürfte Präsident Putin ganz zufrieden sein mit der Entwicklung. Denn die jüngsten Entwicklungen bringen den Russen zwar gewisse Risiken, vor allem aber Chancen – und zwar folgende:
Was Assad stärkt, stärkt auch Moskau. Russland hat 2015 in den Krieg eingegriffen, um den syrischen Diktator zu stützen. Ziel war stets gewesen, dass Damaskus die volle Kontrolle über das Land zurückbekommt. Dieses Ziel rückt nun noch näher. Die unter Druck geratenen Kurden mussten Assad um Hilfe bitten; er schickt Truppen, die bereits erste Städte besetzen. Das Gebiet, welches Assad und seine russischen Verbündeten kontrollieren, wächst.
Je schwächer die Amerikaner, desto besser für Russland. Fast könnte man meinen, US-Präsident Donald Trump habe seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin ein Geburtstagsgeschenk gemacht. Anfang Oktober wurde der Russe 67 Jahre alt. Fast zeitgleich kündigte Washington an, seine Truppen aus dem Nordosten Syriens abzuziehen. Für die Russen ist das ein grosser strategischer Gewinn: denn nun sind sie die einzige Grossmacht, die in der näheren Region militärisch präsent ist. Auch imagemässig stehen die Russen als Gewinner da. Sie verteidigen ihren Verbündeten Assad treu, während die Amerikaner die Kurden schnöde fallen liessen. Diktatoren und Rebellengruppen weltweit werden sich beim nächsten Konflikt gut überlegen, wen sie zu Hilfe rufen.
Natürlich bringt Erdogans Krieg für die Russen auch Risiken. Denn die Türken besetzen faktisch syrisches Land – und gehen damit auf Konfrontationskurs mit Assad. Droht da ein syrisch-türkischer Konflikt? Und wenn ja, auf welche Seite stellt sich der Kreml dann?
Geopolitischer Machtpoker auf Kosten der Kurden
Moskau ist nicht nur enger Waffenbruder Assads. Es hat auch grosses Interesse an guten Beziehungen zur Türkei. Der Kreml versucht, das Land aus der westlichen Verteidigungsallianz Nato herauszulösen. Eine Lieferung russischer Luftabwehrraketen des Typs S-400 an die Türkei hat bereits für ernste Spannungen zwischen Ankara und Washington gesorgt.
Es ist deswegen anzunehmen, dass Moskau alles tun wird, um eine Konfrontation zwischen syrischen Regierungstruppen und der türkischen Armee zu verhindern. Ein Szenario, über das in Moskau spekuliert wird: die Russen erlauben den Türken, eine Pufferzone entlang der türkisch-syrischen Grenze zu errichten; den Rest des Kurdengebiets erhält Assad – zudem dürfen Russen und Syrer in der weiter westlich gelegenen Provinz Idlib vorrücken, ohne dass die Türken sie dort stören. Ein Hinterzimmerdeal also, der Interessensphären definiert. Kurzum: Assad zufrieden, Erdogan zufrieden, USA draussen. Wenn das gelingt, wär’s ein Meisterstück zynischer Machtpolitik – und für Putin ein riesiger Erfolg.