«La familia grande» versammelt viel politischen und wissenschaftlichen Adel Frankreichs. Geschrieben hat das gleichnamige Buch Camille Kouchner. Darin beschuldigt sie ihren Stiefvater Olivier Duhamel, in den 1980er-Jahren gegenüber ihrem Zwillingsbruder sexuell übergriffig geworden zu sein.
Der Angeschuldigte Duhamel ist Verfassungsjurist und Soziologe und bis zum Erscheinen des Buchs einer der einflussreichsten Männer in Frankreichs Wissenschaftsbetrieb.
Während Jahren hatten Kinderschutzorganisationen geklagt, Pädophilie sei gesellschaftlich tabuisiert. Das Buch von Kouchner hat dies zumindest vorübergehend verändert. Zeitungen schreiben von einer Schockwelle und berichten über Missbrauchsfälle innerhalb von Familien. In den sozialen Medien sind hunderte Zeugnisse zu lesen. Selbsthilfeorganisationen werden nach eigenen Angaben von Anfragen überschwemmt.
Medien tun sich schwer mit dem Thema
Die Schockwelle hat auch Frankreichs traditionellen Medien erfasst. Zuerst entliess der Privatsender LCI den Philosophen Alain Finkielkraut. Dieser hatte den Fall Duhamel in einer Fernsehdiskussion missverständlich relativiert.
Als Parodie auf Finkielkraut gedacht, veröffentlichte der prominente Zeichner Xavier Gorce einen Dialog zwischen zwei Pinguinen: Der Kleine fragt den Grossen: «Wenn ich vom adoptierten Halbbruder der Lebenspartnerin meines Transgender-Vaters, der jetzt meine Mutter ist, missbraucht werde, ist dies dann Inzest?»
Die Karikatur erschien in der Online-Ausgabe der Zeitung «Le Monde». Darauf brach in den sozialen Medien ein Sturm los. «Le Monde» zog die Karikatur zurück mit der Begründung, der Zeichner habe sich gegenüber Pädophilie-Opfern und Transgenderpersonen deplatziert ausgedrückt.
Darauf kündigte Zeichner Gorce seine Mitarbeit bei «Le Monde» auf und beschwerte sich über Zensur. Das wiederum liess «Le Monde» nicht gelten. Die Redaktion müsse Verantwortung wahrnehmen und auf die Gefühle der Leserinnen und Leser achten.
Streit um Meinungsfreiheit
Das erinnert an den Streit um Mohammed-Karikaturen in Frankreich: Dem Argument, Gefühle gläubiger Muslime zu verletzen, wird nach laizistischem Grundsatz der Republik stets entgegengehalten, die Meinungs- und Medien-Freiheit sei unantastbar.
Nun stellt sich die Frage neu: Wie weit darf Satire gehen, wenn es um Inzest oder Pädophilie geht? Zeichner Gorce hat seine Antwort in einem weiteren Pinguin-Dialog gegeben: Der grosse Pinguin fragt den kleinen: «Hast Du schon einen Humor-Pass?»