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Tabubruch in der Elite-Familie Inzestfall Duhamel löst in Frankreich Schockwelle aus

Im Buch «La familia grande» wird der Soziologe Olivier Duhamel angeschuldigt, seinen Stiefsohn missbraucht zu haben.

«La familia grande» versammelt viel politischen und wissenschaftlichen Adel Frankreichs. Geschrieben hat das gleichnamige Buch Camille Kouchner. Darin beschuldigt sie ihren Stiefvater Olivier Duhamel, in den 1980er-Jahren gegenüber ihrem Zwillingsbruder sexuell übergriffig geworden zu sein.

Der Angeschuldigte Duhamel ist Verfassungsjurist und Soziologe und bis zum Erscheinen des Buchs einer der einflussreichsten Männer in Frankreichs Wissenschaftsbetrieb.

Familie Kouchner und Duhamel

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  • Das Buch «La familia grande» («Die grosse Familie») der Juristin Camille Kouchner thematisiert sexuellen Missbrauch in ihrer landesweit bekannten Pariser Intellektuellen-Familie.
  • Camille Kouchner wirft ihrem Stiefvater Olivier Duhamel vor, in den 1980er-Jahren gegenüber ihrem damals minderjährigen Bruder Antoine sexuell übergriffig geworden zu sein.
  • Die Vorfälle sind inzwischen strafrechtlich verjährt.
  • Duhamel ging nicht direkt auf die Vorwürfe Kouchners ein, hat aber nach der Veröffentlichung alle seine öffentlichen Funktionen niedergelegt.
  • Camille und ihr Bruder Antoine Kouchner sind die Kinder aus erster Ehe von Bernard Kouchner und Evelyne Pisier.
  • Bernard Kouchner war ehemaliger Aussen- und Finanzminister Frankreichs und Mitbegründer der Hilfsorganisation Médecins sans Frontières.
  • Evelyne Pisier († 2017) war eine der ersten Professorinnen für Öffentliches Recht in Frankreich. Nach ihrer Scheidung heiratete Pisier den Verfassungsrechtler Olivier Duhamel.

Während Jahren hatten Kinderschutzorganisationen geklagt, Pädophilie sei gesellschaftlich tabuisiert. Das Buch von Kouchner hat dies zumindest vorübergehend verändert. Zeitungen schreiben von einer Schockwelle und berichten über Missbrauchsfälle innerhalb von Familien. In den sozialen Medien sind hunderte Zeugnisse zu lesen. Selbsthilfeorganisationen werden nach eigenen Angaben von Anfragen überschwemmt.

Medien tun sich schwer mit dem Thema

Die Schockwelle hat auch Frankreichs traditionellen Medien erfasst. Zuerst entliess der Privatsender LCI den Philosophen Alain Finkielkraut. Dieser hatte den Fall Duhamel in einer Fernsehdiskussion missverständlich relativiert.

Als Parodie auf Finkielkraut gedacht, veröffentlichte der prominente Zeichner Xavier Gorce einen Dialog zwischen zwei Pinguinen: Der Kleine fragt den Grossen: «Wenn ich vom adoptierten Halbbruder der Lebenspartnerin meines Transgender-Vaters, der jetzt meine Mutter ist, missbraucht werde, ist dies dann Inzest?»

Die Karikatur erschien in der Online-Ausgabe der Zeitung «Le Monde». Darauf brach in den sozialen Medien ein Sturm los. «Le Monde» zog die Karikatur zurück mit der Begründung, der Zeichner habe sich gegenüber Pädophilie-Opfern und Transgenderpersonen deplatziert ausgedrückt.

Darauf kündigte Zeichner Gorce seine Mitarbeit bei «Le Monde» auf und beschwerte sich über Zensur. Das wiederum liess «Le Monde» nicht gelten. Die Redaktion müsse Verantwortung wahrnehmen und auf die Gefühle der Leserinnen und Leser achten.

Streit um Meinungsfreiheit

Das erinnert an den Streit um Mohammed-Karikaturen in Frankreich: Dem Argument, Gefühle gläubiger Muslime zu verletzen, wird nach laizistischem Grundsatz der Republik stets entgegengehalten, die Meinungs- und Medien-Freiheit sei unantastbar.

Nun stellt sich die Frage neu: Wie weit darf Satire gehen, wenn es um Inzest oder Pädophilie geht? Zeichner Gorce hat seine Antwort in einem weiteren Pinguin-Dialog gegeben: Der grosse Pinguin fragt den kleinen: «Hast Du schon einen Humor-Pass?»

Echo der Zeit, 22.01.2021, 18:00 Uhr

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