Seit hundert Tagen sind die Taliban wieder an der Macht. Seither haben sich die Menschenrechts- und die Wirtschaftslage verschlechtert. Die Caritas beobachtet dies mit grosser Sorge, wie der Leiter des Afghanistan-Büros sagt.
SRF News: Nach Schätzungen des IWFs wird Afghanistans Wirtschaft in diesem Jahr um bis zu 30 Prozent schrumpfen. Nach der Machtübernahme der Taliban wurde zudem ein Grossteil der afghanischen Währungsreserven im Ausland eingefroren. Welche Auswirkungen hat diese Wirtschaftskrise auf die humanitäre Lage?
Stefan Recker: Den Menschen geht es schlecht. Ich habe Berichte gehört, dass Familien Kinder wirklich verkaufen, um den Rest der Familie über Wasser zu halten. Afghanistan war zumindest in den letzten Jahrzehnten immer ein Nettoempfänger von Auslandshilfen und Überweisungen. Davon ist das Land jetzt abgeschnitten. Auch wir als Hilfsorganisation kommen nur schwer an Geldmittel in Afghanistan.
Die Menschenrechte in Afghanistan werden seit der Machtübernahme weniger eingehalten. Wie nehmen Sie das aus Tadschikistan wahr?
Ich weiss über diese Menschenrechtsfragen nicht mehr, als was man über die Presse erfährt. Was ich aber weiss: Unsere Mitarbeiterinnen arbeiten zurzeit von zu Hause aus.
Die Führungsetage der Taliban mag gute Nachrichten aussenden, was Frauenrechte betrifft. Aber was Fusssoldaten der Taliban konkret auf den Strassen machen, steht auf einem anderen Blatt.
Sie wollen und können nicht ins Büro gehen, weil die Lage zu unklar ist. Die Führungsetage der Taliban mag gute Nachrichten in dieser Hinsicht aussenden. Aber was Fusssoldaten der Taliban konkret machen auf den Strassen, steht auf einem anderen Blatt. Unsere Kolleginnen haben Angst, auf die Strasse zu gehen.
In weiten Teilen des Landes herrscht auch noch eine extreme Dürre. Tausende Afghaninnen und Afghanen wollen das Land verlassen. Wie schwierig ist die Ausreise?
Die Ausreise ist schwierig. Wir möchten fast alle unsere afghanischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Deutschland oder nach Europa ausfliegen.
Man muss davon ausgehen, dass sämtliche Menschen, die in irgendeiner Form mit westlichen Diensten zu tun haben, aus dem Land heraus möchten.
Einige sind schon in Deutschland, andere sind in Nachbarländern. Man muss davon ausgehen, dass sämtliche Menschen, die in irgendeiner Form mit westlichen Diensten zu tun haben, aus dem Land heraus möchten. Sie sind nicht unbedingt konkret gefährdet. Aber sie sehen keine Zukunft für sich und ihre Kinder. Gerade Frauen, die sich für ihre Rechte engagiert haben, haben in Afghanistan keine Perspektive.
Vor welchen Schwierigkeiten stehen die Hilfsorganisationen konkret in Afghanistan?
Die grösste Schwierigkeit ist wie angesprochen die Bankenliquidität. Wir versuchen, auf anderen Wegen an Geld zu kommen, aber wir dürfen es nicht auf illegalen Wegen machen. Ich habe keine Lust, irgendwo auf einer Auslandsreise verhaftet zu werden, weil ich irgendwelche Sanktionen gebrochen habe.
Wir hatten Besuch der Taliban in unseren Büros. Sie haben unsere Mitarbeiter bedroht, beschimpft und beleidigt.
Dazu kommt, dass Frauen wie erwähnt nur noch schlecht arbeiten können. Aber auch die Männer haben Angst. Wir hatten Besuche von Taliban in unserem Büro. Sie haben unsere Mitarbeiter bedroht, beschimpft, beleidigt. Das sind völlig unkontrollierbare Situationen. Eine grosse Schwierigkeit wird zudem sein, dass wir das Büro personell völlig neu aufbauen müssen, wenn unsere Kolleginnen und Kollegen nach Deutschland ausreisen.
Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass sich die Lage in Afghanistan wieder verbessern kann?
Momentan nicht. Eine gute Nachricht ist, dass die EU oder verschiedene EU-Staaten Botschaften oder zumindest Vertretungen in Afghanistan wieder eröffnen möchten. Es wird versucht, dadurch die Sanktionen aufzuweichen. Aber ansonsten sehe ich momentan gesamtwirtschaftlich für Afghanistan keine Verbesserung.
Das Gespräch führte Zoé Geissler.