Die Buchmacher sind sich einig: Londons ehemaliger Bürgermeister und Brexit-Aushängeschild Boris Johnson ist auf bestem Wege, im kommenden Herbst die Nachfolge von David Cameron anzutreten. Doch der exzentrische Johnson ist nicht bloss unberechenbar, er ist auch massgeblich dafür verantwortlich, dass aktuell ein tiefer Riss durch die regierende konservative Partei (Tories) geht.
Genau da kommt Theresa May ins Spiel. Die erfahrene, amtierende britische Innenministerin scheint fest entschlossen, dem ehemals als Politclown verschrienen Johnson den Posten des Premierministers streitig zu machen. Und ihre Chancen stehen nicht mal schlecht.
«Stramme Euroskeptikerin»
Vor der Schicksalsabstimmung stand die 59-Jährige zwar offiziell auf Seite von Cameron und der «Remain»-Kampagne, hielt sich aber diskret im Hintergrund. Ein bewusster Entscheid, um sich eine mögliche Zukunft als Regierungschefin nicht zu verbauen?
«Ich würde nicht ausschliessen, dass sie diese Kalkulation anstellte», sagt SRF-Grossbritannien-Korrespondent Martin Alioth. May sei in der Vergangenheit als «stramme Euroskeptikerin» aufgefallen, habe dann aber mit Verweis auf die innere Sicherheit beschlossen, den Verbleib in der EU nicht zu empfehlen. «Sie nahm allerdings kaum an der Kampagne teil – war also nicht Bestandteil des ‹Project Fear›, der Angstkulisse Camerons für den Brexit-Fall.»
Tatsächlich betonte die studierte Geographin in einer Rede Ende April, Grossbritannien sei keineswegs zu schwach oder zu klein, um ohne die Europäische Union zu bestehen. Jedoch halte sie es für «sicherer», in der EU zu bleiben. Und: «Ich glaube an unsere Fähigkeit zu führen und nicht bloss zu folgen.» Entsprechend pragmatisch und willensstark dürfte May als neue Premierministerin wohl auch in Brüssel agieren. Wobei sie durch und durch englisch sei, sagt Korrespondent Alioth. «Das heisst, sie wird kaum mit der belgischen oder der dänischen Kollegin auf ein Bier gehen.»
Populär wie Johnson? Sicher nicht.
Distanziert und eher kühl sieht auch das Volk die in Oxfordshire als Einzelkind aufgewachsene May, bisweilen wirkt sie gar schroff. «Zum Beispiel, wenn sie der Polizeigewerkschaft die Leviten liest, was sie mehrfach getan hat», so Alioth. Geht es um Popularität, kann sie Boris Johnson also bei weitem nicht das Wasser reichen. Schliesslich wurde dieser – auch dank seines rhetorischen Talents und seiner gezielt eingesetzten schlüpfrigen Bemerkungen – mehrfach zum beliebtesten Politiker des Königreichs gewählt.
Verglichen mit Lebemann Johnson erscheint May geradezu etwas farblos. «Dafür hat sie Substanz, ist berechenbar und krisenresistent», sagt Alioth. Letzteres bestreiten wohl auch ihre ärgsten Gegner nicht. Immerhin hat Theresa May schon seit 2010 das Innenministerium (Home Office) unter sich, obwohl dieses Amt gemeinhin als unbequemster Regierungsjob auf der Insel gilt.
Die Frau des Ausgleichs
So einfach lässt die 59-Jährige also nicht locker. Und diese Hartnäckigkeit wird sie dringend benötigen. Wegen der EU-Frage sind die Konservativen zutiefst gespalten. Doch May ist nicht bloss euroskeptisch genug, um auch Brexit-Befürworter auf ihre Seite zu ziehen. Ihr wird selbst zugetraut, das Hickhack innerhalb der Tories zu beenden.
May habe zwar keine Hausmacht in der Fraktion, gibt Alioth zu bedenken. «Aber in der Brexit-Frage ist sie für niemanden ein Feindbild – das bedeutet in der gegenwärtigen Lage schon viel.» Zumal sie damit natürlich gegenüber dem in höchstem Masse polarisierenden Johnson klar im Vorteil ist. Oder wie es ein konservativer Abgeordneter jüngst ausdrückte: «Wir müssen uns hinter Theresa versammeln. Sie ist die Erwachsene.»