«Es war ein Ritual», sagt Helmut Altrichter. Er ist emeritierter Professor für neuere und neuste Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen-Nürnberg und hat eben eine neue Biographie zu Stalins Leben verfasst.
Wenn der innere Zirkel rund um den russischen Diktator Josef Stalin in Stalins Büro nach stundenlangen Diskussionen zu einem Ende kam, sah man sich im Kremlkino einen Film an. Danach dislozierte der Fünferkreis aus Stalin, Malenkow, Berija, Chruschtschow und Bulganin hinaus nach Kunzewo. In Stalins Datscha. Dort liessen es sich die Herren gut gehen, bis in die Morgenstunden.
Arterienverkalkung, Leberentzündung und Herzmuskelschwäche
Am letzten Februartag des Jahres 1953 sollte dieses Ritual zum letzten Mal stattfinden. Es ist ein Samstag, und am Sonntag darauf bleibt Stalin auf seinem Zimmer. Niemand seiner Entourage wagt es, den unberechenbaren Despoten zu stören. Erst am Abend dringt man schliesslich in Stalins Gemächer vor.
Stalin liegt am Boden in einer Urinlache. Ein schwerer Schlaganfall hat einen der rücksichtslosesten Massenmörder der neusten Geschichte ausser Gefecht gesetzt. VierTage später, am 5. März 1953, verstirbt Josef Stalin an den Folgen dieses Schlaganfalls. Wirklich tot ist der Sohn eines Schuhmachers aus Gori indes bis heute nicht.
Wer Stalins Vertrauen verlor, verlor oft auch das Leben
Über den Diktator mit Schnurrbart erscheint demnächst eine neue Biographie. Verfasst hat sie Helmut Altrichter. SRF News hat sich mit ihm getroffen. Altrichter berichtet über den Tod Stalins, die letzten Jahre davor und die darauffolgende Entstalinisierung. Und über die jetzige Tendenz, den grossen Schlächter in gewisser Weise zu rehabilitieren.
In seinem Buch skizziert Altrichter einen Diktator, dem dessen Arterienverkalkung, Leberentzündung und Herzmuskelschwäche zunehmend zur Hypothek werden. Ein Diktator, der auf dem Höhepunkt seiner Macht den Tod von Millionen von russischen Bürgern zu verantworten hat und der nun gegen Ende seines Lebens nicht nur körperlich zerfällt.
Natürlich habe es niemand gewagt, Stalin mit seinem sichtbaren Zerfall zu konfrontieren, erklärt Altrichter. Einen Angelpunkt seiner Machtentfaltung bildet dabei sein grün gestrichenes Haus ausserhalb von Moskau, seine Datscha.
Wer eine Einladung dorthin erhält, ist wohlgelitten. Wer nicht mehr hin darf, hat einen ernsthaften Grund, sich Sorgen zu machen. Fiel man bei Stalin in Ungnade, habe das schon auch den Tod bedeuten können, schildert Altrichter die Atmosphäre im damaligen Machtzirkel. Und am Ende gab es Anzeichen, wonach Stalin eine neue Säuberung der Parteispitze vorbereitete.
Die Gnade, dazu zu gehören
Dieser bestand aus dem Politbüro. Es zählte neun Mitglieder und zwei Kandidaten. Gegen Ende berief Stalin das Politbüro immer seltener formell ein. Stattdessen trifft er sich mit einem ausgewählten Zirkel. Die Beschlüsse dieser Fünfergruppe werden dem Büro lediglich noch kommuniziert.
In diesen Kreis informeller Herrschaft konnten Personen dazu genommen oder eben auch verbannt werden – je nachdem, ob sie Stalins Vertrauen gerade erlangten oder verloren. Ein eindrückliches Beispiel für letztere Variante sind Wjatscheslaw Molotow und dessen Frau Polina. Molotow wird von Stalin im März 1949 als Volkskommissar des Äusseren entlassen. Weil seine jüdische Frau mit den israelischen Juden sympathisierte. Polina wird in das zentralasiatische Kustanai verbannt.
Zwischen tiefer Trauer und Suff
Die altgedienten Bolschewisten, Männer wie Molotow, die sich besonders am Ende ständig bedroht fühlen mussten, dürften über Stalins Tod erleichtert gewesen sein. «Zumindest mit einer gewissen Verzögerung», sagt Altrichter. Zunächst hat aber wohl nach Stalins Ableben selbst bei Ausgestossenen Entsetzen geherrscht.
Gleich nach Stalins Schlaganfall mäandrieren die eingeschüchterten Mitstreiter erst einmal um die Frage, wie sie überhaupt reagieren sollen. Erst als die Ärzte aufgrund der Schwere des Anfalls den baldigen Tod Stalins in Aussicht stellen, ringt sich der Machtzirkel zu Entscheidungen durch.
In der Bevölkerung wiederholen sich diese Reflexe im Grossen und Ganzen. Weitum habe eine tiefe Trauer geherrscht, erklärt Altrichter. Und ein Bangen, wie es nun weitergehen könnte. Stalin ist in den Augen der Menschen ein Weltenlenker. Ein Macher, der sie im 2. Weltkrieg dank seiner forcierten Industrialisierung vor dem Untergang bewahrt und der ihnen danach den Weg zur Weltmacht geebnet hat.
Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ist quasi Stalins Zögling. Altrichter ordnet Stalins Nachfolger den Mittätern stalinistischer Gräueltaten zu. Entgegen der Versuche, Chruschtschow zum blossen Mitwisser zu entschärfen, erzählt der Historiker in seinem neuen Buch von einer entlarvenden Massnahme.
Diese Massnahme aus Stalins Hand mit der leicht unterkühlten Bezeichnung «Befehl 00447» regelt, wie viele Personen im Rahmen der postrevolutionären Säuberungen pro Region erschossen bzw. in die Peripherie deportiert werden sollen. Der Befehl enthält eine Klausel, wonach ein Regionsverantwortlicher bezüglich der Kontingente einen Änderungsantrag stellen kann. Der Vorsteher der Region Moskau macht vom Antragrecht Gebrauch und lässt die Todesquote von 5000 auf 8000 anheben. Der Verantwortliche heisst Nikita Chruschtschow.
Der gleiche Chruschtschow hält 1956 anlässlich des 20. Parteitages eine etwa fünfstündige Rede. Darin demontiert er dann Stalin als einen Verbrecher.
Stalin wird einfach aus der Geschichte ausgeblendet
Chruschtschow stürzt in der sogenannten «Geheimrede» seinen Ziehvater vom Sockel. Er macht ihn für alle Folgen der Säuberungen in den 1930er Jahren verantwortlich. Die Misere führt Chruschtschow auf den Personenkult rund um Stalin zurück. Irrungen, die nach Ansicht Chruschtschows zu Verwerfungen im politischen System geführt hätten.
Bei seiner Kritik blendet Chruschtschow die Partei freilich aus. Deren grosse Entscheide bleiben unantastbar. Revolution und Bürgerkrieg sind sakrosankt. Ebenso die Kollektivierung und die forcierte Industrialisierung mit ihren Hunderttausenden von Hungertoten.
Und schliesslich beklagt Chruschtschow in seiner Rede am Parteitag auch nur Stalins Säuberungen im russischen Politapparat, im Staat und in der Wirtschaftselite. Die Deportationen und Erschiessungen unter der Bevölkerung, namentlich unter den russischen Bauern, sind für Chruschtschow kaum Thema.
Rehabilitierung durch die Hintertür
Bis zur Ablösung Chruschtschows 1964 wird Stalin aus der Geschichte ausgeblendet, wie man seinerzeit Trotzki ausgeblendet hat. Eine neue Milde erfährt der verstorbene Despot erst mit der Machtübernahme Leonid Breschnews 1969. Das Stalin-Museum in Georgien darf wieder geöffnet werden. Stalins Grab – zuvor von Chruschtschow aus dem Lenin-Mausoleum an die Kremlmauer verbannt – wird mit einer Büste aufgewertet.
Für Altrichter ist das eine Rehabilitation auf Umwegen. Für Breschnew sei die grosse russische Erzählung zentral gewesen. Unter dem Strich wird die Erzählung von der Ansicht getragen, wonach es ohne die Bolschewiken keine Oktober-Revolution gegeben hätte, ohne Revolution keine Kollektivierung und keine forcierte Industrialisierung, und ohne Industriestaat kein Überleben im Zweiten Weltkrieg und keinen Aufstieg zur Weltmacht.
«Weil die Erinnerung an den Weltkrieg von der Person Stalins nicht zu trennen ist, kommt er dann über diese Hintertür wieder herein», erklärt der Historiker. Dieser Schleichweg hat sich bis heute gehalten. Für viele Russen existiert heute eine Art Phantomschmerz. Ein Schmerz über den Niedergang der Sowjetunion.
Dabei sehnt man sich aber nicht nach der Zeit selber zurück, sondern nur nach der Grösse Russlands in dieser Zeit. So hofft man allenthalben, durch einen Schulterschluss mit der Geschichte dereinst vielleicht wieder an diese Zeiten anschliessen zu können.
Und in dieser Erinnerungskultur ist es eben Stalin gewesen, der dieses riesige arme Land zu einem Industriestaat, zu einer Weltmacht, geschmiedet hat. Ein historisches Erbe, mit dem nach Ansicht Altrichters auch Putin liebäugelt.
Die Beziehung von Putin und Stalin ist kompliziert.
Bei seinem Machtantritt im Jahr 1999/2000 war das Land von einer Zweiteilung gezeichnet: die Reformer auf der einen Seite, die traditionellen Kommunisten auf der anderen. Putins Traum besteht in der Versöhnung beider Lager. Viele seiner innenpolitischen Massnahmen sind bezeichnend dafür.
Aber auch Putins heutige Aussenpolitik müsse unter diesem Gesichtspunkt interpretiert werden, verlangt Altrichter. «Das, was Putin auf der Krim oder in der Ukraine macht, ist letztlich der gleiche Versuch, einen Schulterschluss zwischen Tradition und Moderne zu erzielen.»
Man versucht auf der einen Seite, die nationalen Gefühle zu mobilisieren. Auf der anderen verhindert man die Perspektive, wonach die Einmischungen auf das Erbe der Sowjetunion verweisen. Sie sind nach Putins Auslegung dem historischen Russland geschuldet.
«Die Beziehung zwischen Putin und Stalin ist kompliziert», schliesst Altrichter seine Erläuterungen. Genauso kompliziert wie das gesamte Verhältnis der Menschen zu ihrer Geschichte. Ein Verhältnis, das derzeit wieder mit viel Deutlichkeit ausgehandelt wird.
Frau «Staehelin» und die Schweiz
März 1967. Josef Stalin ist seit 14 Jahren tot. Und doch versetzt er in diesen Tagen die Schweiz in Aufruhr. Oder besser gesagt: Seine Tochter Swetlana Allilujewa.
«Die Angelegenheit ist dringend», schreibt US-Botschafter John Hayes am späten Nachmittag des 7. März 1967 dem Bundesrat. Die Schweiz soll Swetlana Allilujewa Asyl gewähren. Die einzige Tochter von Josef Stalin ist in Rom. In die Sowjetunion zurückkehren will sie nicht. Als junge Erwachsene hatte sie die Unmenschlichkeit in der Politik Stalins erkannt.
Vor Rom war Allilujewa in Indien, wo sie ihren Lebenspartner Kanwar Brajesh Singh beerdigte. Es ist ihre erste Auslandreise und diese nutzt sie, um bei der US-Botschaft in New Delhi politisches Asyl zu beantragt.
Die US-Vertretung erteilt Allilujewa ein Visum. Doch ihre Reise wird durch die Amerikaner in Italien gestoppt. Zu gross ist plötzlich die Angst, dass die Flucht von Stalins Tochter in den Westen die Stimmung im Kalten Krieg verschlechtern könnte.
Die Schweiz soll dank ihrer humanitären Tradition als Vermittlerin eingesetzt werden, bittet US-Botschafter Hayes. Das zeigen Auszüge aus diplomatischen Dokumenten. Mit dem Zeitdruck im Nacken entschliesst sich der Bundesrat am 10. März, Allilujewa als Touristin und unter strengen Bedingungen in die Schweiz aufzunehmen.
Für Sacha Zala, Direktor Diplomatische Dokumente Schweiz, ist klar: «Zentral für das Dilemma des Bundesrats war die rechtlich freilich ziemlich akrobatische Bestimmung, dass Allilujewa zwar als Touristin einreisen durfte – und eben kein Asyl erhielt –, sie sich jedoch denselben Bedingungen bezüglich politisch-publizistischer Enthaltsamkeit unterwerfen musste, wie anerkannte Flüchtlinge.»
Ohne die Zusicherung der USA, innert drei Monaten die Weiterreise Allilujewas zu organisieren, hätte der Bundesrat Allilujewa wohl nicht in die Schweiz einreisen lassen, so Zala.
Am 11. März, um 6 Uhr, landet die Russin in Genf-Cointrin. Eine vom EPD (Eidgenössischen Politischen Departement, heute Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten, EDA) «diskrete Übernahme durch die Bundespolizei» wird «unnötig erschwert», denn die Presse hatte vom hohen Besuch erfahren und wartet bereits am Flughafen auf die 42-Jährige.
Allilujewa wird nach Beatenberg über dem Thunersee im Berner Oberland gebracht. Dort checkt sie unter dem Namen «Staehelin» ins Hotel Jungfraublick ein. An die Weisung von Bundesrat Ludwig von Moos, Allilujewa in Ruhe zu lassen, halten sich die nationalen und internationalen Medien nicht: In Beatenberg wimmelte es nur so von Medienvertretern. Deshalb entscheidet sich die Polizei, Stalins Tochter zuerst nach St. Antoni im Senseland und dann ins Visitandinnenkloster in Freiburg zu bringen.
Für die Schweiz ist der Aufenthalt von Allilujewa ein politischer Balanceakt. Die UdSSR und die USA bemühen sich im Rahmen der geltenden «Entspannungspolitik» um Annäherung.
Die Flucht von Stalins Tochter in den Westen ist für die Sowjetunion peinlich. Zudem hat Allilujewa etwas Brisantes vor: Im Westen angekommen, will sie ihre Memoiren «20 Briefe an einen Freund» veröffentlichen.
Im Spannungsfeld des Kalten Krieges war solches Material propagandistisch hochexplosiv und Millionen wert.
«Das Manuskript spielte die zentrale Rolle in der ganzen Dramaturgie dieser Geschichte und war eigentlich Allilujewas ‹Lebensversicherung› für einen Neustart im Westen», erklärt Zala.
«Im Spannungsfeld des Kalten Krieges war solches Material propagandistisch hochexplosiv und Millionen wert.» Der Vertrag mit dem New Yorker Verlag Harper & Row, der das Buch schliesslich im Herbst 1967 herausgab, sei mit Allilujewa noch in der Schweiz über eine Zürcher Anwaltskanzlei abgewickelt worden, weiss Zala.
Eine «Ausschlachtung» dieser Schriften «im Sinne des Kalten Kriegs» soll es nicht geben, versichern die USA. Und stoppen deshalb Allilujewa Reise. Der Bundesrat steckt in einem Dilemma. Auf der einen Seite stehen staatliche Interessen, auf der anderen Seite die individuellen Freiheitsrechte von Allilujewa.
Die Zwangslage wird auch in der Notiz von Antonio Janner, Chef der «Sektion Ost» des EPD, klar: «Dass wir nicht nur den Vereinigten Staaten, sondern selbst der Sowjetunion im jetzigen Moment einen Dienst erweisen, aber nur, indem wir praktisch Swetlana [Allilujewa] mundtot machen und sie, auch wenn sie, weil ihr nichts anderes übrigbleibt, dazu einwilligt, von der Aussenwelt abschliessen.»
Swissair bringt Allilujewa in ihre Wahlheimat
Janner ist Antikommunist und schlägt vor, Allilujewa von ihrem Schweigegelübde zu befreien. «Der moralische Gewinn für die Schweiz wäre wohl immens», ist er überzeugt. Doch dem Bundesrat ist das zu viel. Seit Beginn der 1960er Jahren betreibt die Schweiz immer mehr Handel mit östlichen Ländern. Im Protokoll steht: «Unsere Beziehungen mit der UdSSR zählen mehr als der Status von Frau A.»
Moskau kontaktiert die Schweiz unterdessen über Geheimdienstkanäle. Das Land fordert, dass die Schweiz Allilujewa – die «teilweise unzurechnungsfähig» sei – zu einer Rückkehr zu überreden. Sonst würden sich die Beziehungen verschlechtern.
Doch soweit kommt es nicht. Nach sechs Wochen Aufenthalt in der Schweiz reist Allilujewa am 21. April 1967 als «Frau Staehelin» in einer Swissair-Maschine nach New York.
Der Bundesrat zeigt sich erleichtert, die Angelegenheit sei ausgezeichnet abgewickelt worden. Die Schweiz habe sich «ungeschoren» aus der Affäre gezogen. Zusätzlich hätte man den beiden Mächten UdSSR und USA einen Gefallen getan.
Wie das Ereignis die Beziehung der Schweiz zu den beiden Supermächten verändert hat, ist gemäss Zala nur schwierig zu sagen. Aber als Bundesrat Spühler im August zu Besuch in den USA war, wurde im US State Department die «ausserordentlich fruchtbare und diskrete Zusammenarbeit in der Angelegenheit von Stalins Tochter sehr lobend erwähnt».
Andererseits hätte die Sowjetunion alle Interessen daran gehabt, die Angelegenheit möglichst rasch vergessen zu lassen. «Im Klima des Kalten Krieges war schliesslich für die UdSSR wichtiger, gute Beziehungen zur Schweiz weiterhin aufrechtzuerhalten.»