«Du hattest keine Angst, auch wir haben keine Angst», ruft die Menge in den grauen Himmel über Moskau. Tausende sind in ein Aussenquartier der Hauptstadt gekommen, um dem wichtigsten russischen Oppositionellen die letzte Ehre zu erweisen. Kaum jemand hat damit gerechnet, dass es so viele sein werden.
Der Kreml ist in den letzten Monaten mit bisher unbekannter Härte gegen Andersdenkende vorgegangen. Fast kein Tag vergeht ohne einen politischen Prozess. Jeder noch so harmlose Protest kann mit mehreren Jahren Haft bestraft werden.
Und nun steht da plötzlich eine Menschenmenge in Moskau und verabschiedet sich von Alexej Nawalny. Er war für viele Russen und Russinnen eine Lichtgestalt – einer, der ihnen Hoffnung gab, dass ein anderes Russland möglich ist.
Der Kreml hat Nawalny wie einen Staatsfeind behandelt. Er wurde ins Gefängnis gesteckt, der Geheimdienst wollte ihn vergiften. Vor zwei Wochen starb Nawalny in einem brutal harten Straflager nördlich des Polarkreises.
Unerwartet riesige Anteilnahme
Doch selbst im Tod inspiriert Nawalny die Menschen, macht ihnen Mut. Es gab viele Tränen heute auf Moskaus Strassen, aber auch viel Wut. Die Trauernden vor der Kirche haben das Begräbnis in eine Demonstration gegen den Kreml verwandelt. «Putin ist ein Mörder», riefen sie. «Nein zum Krieg.» Und eben: «Du hattest keine Angst, auch wir haben keine Angst.»
Ein solchen öffentlichen Protest hat Russland seit Beginn des Angriffs auf die Ukraine nicht mehr erlebt. Der Kreml hat Medien, Politik und auch Diskussionen in sozialen Medien weitgehend gleichgeschaltet. Auch vor der Trauerfeier bauten die Behörden eine düstere Drohkulisse auf: Vor der Kirche fuhr ein massives Polizeiaufgebot auf – samt Gefangenentransporter. Prompt kam es zu – bisher nur vereinzelten – Festnahmen.
Mit dem Tod von Alexej Nawalny ist für viele Menschen in Russland auch die Hoffnung auf ein anderes Russland gestorben. Wer, wenn nicht er, sollte den Widerstand gegen ein zunehmend skrupelloses Regime im Kreml anführen? Die bittere Wahrheit ist: Niemand in der Opposition hat auch nur annähernd das Talent, den Mut und das Charisma von Alexej Nawalny.
Das andere Russland lebt
Und doch: der heutige Tag hat gezeigt, dass das andere Russland lebt. Es gibt immer noch erstaunlich viele Menschen, die ein Ende des Krieges gegen die Ukraine möchten, ein Land ohne politische Gefangene, ohne ohrenbetäubende Staatspropaganda. Und vor allem: Leute, die bereit sind, für ihre Überzeugungen einzustehen. Jeder und jede, die heute an Nawalnys Beerdigung war, riskiert seine oder ihre Freiheit.
Klar ist aber auch: Dieses andere Russland hat mit Nawalny seine Überfigur verloren. Gemessen an der Grösse des Landes sind diese «anderen Russen» eine kleine Minderheit und sie stehen einem mächtigen, rücksichtslosen Staat gegenüber.
Die ehemalige Sprecherin von Nawalny hat auf Twitter ein Foto des Verstorbenen veröffentlicht und dazu geschrieben: «Du wirst stolz sein auf uns.» Es tönt, als müsse sie sich selbst Mut machen für eine Zukunft ohne Alexej Nawalny.