Sie singen kein Weihnachtslied, sondern ein Volkslied aus Mitchoacán, der Region im Süden Mexikos. Von dort sind sie angereist um Ramón Santos Martínez zu sehen. Er ist ihr Ehemann, Vater, Schwiegervater und Grossvater. Vor zwanzig Jahren ist er in die USA ausgewandert. Vor 17 Jahren hat er Frau und Kinder das letzte Mal gesehen.
«Ich bin sehr dankbar heute, weil wir uns so lange nicht nahe waren. Ich bin sehr froh und glücklich, würde sie gerne umarmen, aber das geht nicht», sagt Ramón. Er kann seine Verwandten zwar sehen und mit ihnen sprechen. Doch er ist noch immer von ihnen getrennt durch rostige, zehn Meter hohe Stahlpfeiler, zu denen er drei Meter Abstand halten muss.
Anfassen verboten
Grenzpolizisten und Kameras überwachen jede Bewegung der Besucher des Weihnachtsgottesdienstes. Ramóns Frau Ana und Tochter Patricia stecken ihre Gesichter so weit sie können zwischen den Säulen durch und lächeln ihm zu.
«Wir haben widersprüchliche Gefühle. Wir sind sehr froh, dass wir ihn sehen, aber da ist noch immer diese Distanz. Es ist wie es ist und wir sind zufrieden», sagt Ana. Patricia fügt hinzu: «Die Tränen sprechen für sich selbst. Wir weinen, weil wir ihn nicht umarmen und anfassen sondern nur sehen können. Es sind so viele Jahre vergangen.»
Die Kirchen auf beiden Seiten der Grenze haben den Weihnachtsgottesdienst an der Mauer organisiert. Die US-Grenzpolizei ermöglicht für ein paar Stunden den Zugang und fragt niemanden nach Papieren. Die meisten Besucher auf der US-Seite haben wie Ramón keine Aufenthaltsgenehmigung für die USA – und Verwandte auf der mexikanischen Seite bekommen kein Visum, um sie zu besuchen.
Angst vor der Abschiebung
Predigten und Lieder erzählen auf Spanisch und Englisch die Geschichte von Jesus, einem dunkelhäutigen, machtlosen Kind und die Geschichte von Maria und Joseph auf der Suche nach einer Herberge. Kinder auf beiden Seiten der Mauer erzählen, was die Einwanderungs- und Grenzpolitik der Trump-Regierung für sie bedeutet: Freunde und Familie in Haft, Angst vor Razzien, vor dem Verlust des Studienplatzes und vor der Abschiebung der Eltern.
«Wir danken allen, die hier sind, weil ihr uns zeigt, dass unsere Situation euch wichtig ist. Aber es geht nicht nur um uns, sondern um Menschen überall auf der Welt, denen es ähnlich geht», sagt Pfarrer John Fanestil aus San Diego. Er organisiert seit Jahren Gottesdienste hier an der Grenze zu Tijuana. Er arbeitet mit Architekten und Aktivisten an einem Plan, das Gelände in einen binationalen Park zu verwandeln, der eine Mauer überflüssig macht.
«Im derzeitigen politischen Klima ist das allerdings unwahrscheinlich», sagt Fanestil. US-Präsident Donald Trump habe die Grenzmauer zu seinem Logo gemacht und wolle sie bauen, damit er sich davor fotografieren lassen könne. «Er nutzt sie als Kulisse», so der Pfarrer. Der Park sei deshalb eine langfristige Vision.
Einzig die Hoffnung bleibt
Ramón ist inzwischen ein paar Meter zur Seite gegangen, wo Besucher direkt an den Zaun kommen. Hier ist dieser allerdings durch ein enges Stahlnetz so verstärkt, dass sie sich höchstens mit den Fingerspitzen berühren können. Leise sprechen Ramón und seine Frau Ana miteinander.
Ihr Sohn Santiago schaut unterdessen sehnsüchtig zum Ende der Stahlpfosten im Pazifik und zu den Möwen, die scheinbar schwerelos über die Grenze gleiten. Er sagt: «Ich habe viele Gefühle und auch neue Hoffnung, dass sich etwas ändert: dass die an der Macht eines Tages verstehen, wie wichtig es ist, dass Familien zusammen sein können.»