Die US-Truppen ziehen sich aus Afghanistan zurück, während die radikal-islamistischen Taliban ihre Angriffe auf die afghanischen Regierungstruppen intensivieren. Wie es nach dem vollständigen Abzug der US-Armee weitergeht, ist völlig unklar. ARD-Korrespondentin Silke Diettrich schätzt die Lage im Land als sehr fragil ein.
SRF News: Die US-Truppen ziehen sich aus Afghanistan zurück – trotzdem fliegen sie immer noch Angriffe auf vorrückende Taliban. Wie geht das zusammen?
Silke Diettrich: Die USA haben in den letzten Tagen ihre Luftangriffe auf Taliban-Kämpfer verstärkt – offenbar ist Not am Mann. Man wolle dies vorläufig auch weiterhin tun, hiess es. Was punkto Luftunterstützung für die afghanische Armee aber nach dem vollständigen Abzug der US-Truppen passiert – dieser sollte bis spätestens am 11. September abgeschlossen sein – haben die USA noch nicht gesagt.
Mit dem Vorrücken der Taliban kommt die demokratische Regierung von Präsident Aschraf Ghani zunehmend unter Druck. Wie geht sie damit um?
Ghani macht einen sehr blassen Eindruck. Er hat kaum noch Verbündete in der Regierung. Andererseits spricht diese seit Wochen von einer Grossoffensive, die gegen die Taliban gestartet werden soll. Bislang hat man davon allerdings noch nichts gesehen. Die Regierung versucht es jetzt mit einer nächtlichen Ausgangssperre, die fast im ganzen Land gelten soll. Ausserdem verhandelt sie weiter mit Taliban-Vertretern, bisher ohne Erfolg.
Wie stark sind die Taliban denn aktuell?
Sie behaupten, 85 Prozent des Landes zu kontrollieren, doch Beobachter halten das für übertrieben. Sicher ist aber, dass sie immer mehr Gebiete kontrollieren und dass es inzwischen weit mehr als die Hälfte des Landes ist. Allerdings haben sie es noch nicht geschafft, auch die Provinzhauptstädte unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Taliban sind also vor allem flächenmässig im Vorteil.
Die Taliban gehen strategisch durchdacht vor.
Ausserdem halten sie drei Grenzübergänge zu Iran, Pakistan und Tadschikistan. So können sie Zölle und Strassengebühren einnehmen und die Städte immer stärker in die Zange nehmen. Ihr Vorgehen ist strategisch durchdacht.
Steht Afghanistan also wieder am selben Ort wie 2001, bevor die internationalen Truppen einmarschiert sind?
Man ist zwar noch nicht so weit, dass ein Taliban-Regime bereits an der Macht ist und Bürgerkrieg herrscht. Doch die Taliban werden nach dem Abzug der US-Truppen wieder an die Macht kommen. Und damit ist völlig klar, dass Afghanistans Bemühungen, eine Demokratie zu werden, beendet werden.
Die demokratische Verfassung wird es in Afghanistan bald nicht mehr geben.
Die demokratische Verfassung mit Menschenrechten wie gleichen Rechten für Mann und Frau wird in Afghanistan wohl schon bald nicht mehr gelten.
Was bedeutet das für die Afghaninnen und Afghanen, die das Land nicht verlassen können?
Viele fühlen sich im Stich gelassen. Vor allem in Norden des Landes gibt es viele neue Flüchtlingslager um die Provinzstädte herum. Die Lage dort ist elend. Die Menschen leben in billigen Zelten von der Hand in den Mund.
Viele Afghanen wollen das Land verlassen. Bloss: wohin?
Unter jenen Menschen, die etwas gebildeter sind und ein bisschen Geld haben, herrscht ebenfalls grosse Aufregung. Ich war kürzlich in Kabul, wo eine starke Anspannung spürbar ist. Viele Leute haben mir von ihren Plänen erzählt, das Land verlassen zu wollen. Die grosse Frage ist bloss: wohin? Manche dürften es in den Nachbarstaaten versuchen, andere werden sich in Richtung Türkei aufmachen und probieren, weiter nach Europa zu gelangen.
Das Gespräch führte Susanne Stöckl.