Die Bilder der Nacht vom 15. auf den 16. Juli gingen um die Welt. An strategischen Plätzen der Hauptstadt Ankara und in Istanbul postierten sich schwer bewaffnete Soldaten, in der Küstenstadt Marmaris stürmte ein Sondereinsatzkommando das Feriendomizil von Präsident Erdogan.
Erdogan entkam, und rief kurze Zeit später in einem verwackelten Handy-Video zum Widerstand gegen die Putschisten auf. Es folgten blutige Strassenschlachten zwischen Militär und Zivilisten. Schliesslich wichen die Soldaten zurück – der Widerstand in der Bevölkerung war zu gross. Landesweit starben 234 Menschen.
Zum Inbegriff des gescheiterten Putsches wurden die Soldaten auf einer der drei Bosporus-Brücken in Istanbul. Dort fuhren erst Panzer auf, dann aber drangen Zivilisten zu den Umstürzlern vor. Die Soldaten eröffneten das Feuer, 34 Menschen starben. Unter ihnen war auch Erol Olçak, ein enger Freund von Präsident Erdogan.
Gerechtigkeit oder Inszenierung?
Nun müssen sich 143 Soldaten, die in der Putsch-Nacht die Bosporus-Brücke besetzten, vor Gericht verantworten. Es ist nicht der erste Prozess gegen mutmassliche Putschisten – auch Journalisten, Lehrer und andere Militärs standen bereits vor Gericht.
Doch es ist eine Gerichtsverhandlung, die kaum symbolträchtiger sein könnte: «Die Bedeutung dieser besetzten Brücke, der Verbindung zwischen Asien und Europa, macht diesen Prozess zu einem besonderen», sagt Luise Sammann, freie Journalistin in Istanbul.
Viele der Angeklagten sind Kadetten einer Militärschule. Sie hätten nichts anderes getan, als den Befehl ihrer Vorgesetzten auszuführen, nämlich die Bosporus-Brücke zu besetzen. Ihnen droht nun, bis ans Lebensende hinter Gittern zu verschwinden: Die Staatsanwaltschaft fordert für jeden Einzelnen von ihnen 37 Mal lebenslänglich.
Gründungsmythos einer neuen Türkei
Für Sammann reiht sich der Massenprozess in den Versuch von Präsident Erdogan und seiner AKP ein, dem Umsturzversuch historische Bedeutung zu verleihen:
Die AKP-Regierung will mit den Prozessen an ihrem ‹Helden-Epos› weiterschreiben.
Der Putsch vom 15. Juli, der Erdogan hätte stürzen sollen, hat sich nun in sein Gegenteil verkehrt: Er zementiert Erdogans Macht in der Türkei – und wird zum Gründungsmythos für ein Volk und eine Partei, die sich den Putschisten todesmutig widersetzten: «Die Erzählung soll so identitätsstiftend sein und so in Erinnerung bleiben, wie es in anderen Ländern etwa ein Unabhängigkeitskrieg ist», sagt Sammann.
Der Mythos wird nicht nur in Gerichtssälen genährt. Er findet seinen Niederschlag auch in Denkmälern, die in Windeseile aufgestellt wurden. Die Bosporus-Brücke wurde in die «Brücke der Märtyrer des 15. Juli» umbenannt. Und das «Epos des 15. Juli» werde auch schon in den Schulbüchern fortgeschrieben, berichtet Sammann: «Schon die Kinder werden darauf getrimmt, die Bedeutung dieses Datums zu erkennen.»
All das zeigt, warum Präsident Erdogan den Putschversuch als «Geschenk Gottes» bezeichnet hat: Er verleiht ihm und seiner Partei, zumindest in der eigenen Wahrnehmung, unangefochtenen Führungsanspruch über eine erneuerte Türkei.
«Wahnsinniger Druck» auf der Justiz
In der Türkei sei zwar unbestritten, dass die Putschisten bestraft werden müssten: «Unter Erdogan-Unterstützern und seinen Gegnern besteht Einigkeit, dass der Putsch ein Verbrechen war», sagt Sammann. Anders sehe ein Teil der Bevölkerung aber die politischen Folgen des Putschversuches: die Verhaftungen, der anhaltende Ausnahmezustand, die Unterdrückung kritischer Stimmen:
All das führt immer wieder zu dem Vorwurf, dass Erdogan den 15. Juli nutzt, um sein autoritäres Regime zu etablieren.
Von Schauprozessen will Sammann aber vorderhand nicht sprechen. Es müsse abgewartet werden, wie mit den Angeklagten verfahren werde. «Wir wissen aber aus vorangegangenen Verfahren, dass ein wahnsinniger Druck auf allen lastet, die an diesen Prozessen beteiligt sind – von Staatsanwälten, Richtern bis zu den Verteidigern.»
Wer einen Putschisten oder Gülen-Anhänger verteidige, berichtet die Journalistin aus Gesprächen mit Anwälten, gefährde damit seine Karriere. Sammann schliesst denn auch: «Unter der aufgeladenen Atmosphäre in der Türkei kann nicht von einem der wichtigsten Standbeine einer Demokratie sprechen: Einer unabhängigen, unvoreingenommenen Justiz.»