Wie weit die Türkei bei ihrer von langer Hand geplanten Invasion vorrücken wollen, ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Es kann sein, dass sich die Türken – beziehungsweise die von der Türkei geführten syrischen Milizen, die Ankara als Bodentruppen dienen – nur an wenigen Orten festsetzen. Oder es kann sein, dass sich die Türkei und die kurdischen Verteidiger einen langen, blutigen Kampf liefern.
Es drohen ethnische Konflikte
Im Kern will türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Nordsyrien eine 15 bis 35 Kilometer tiefe «Sicherheitszone» schaffen und dort möglichst viele der dreieinhalb Millionen in die Türkei geflüchteten Syrer ansiedeln. Doch die Flüchtlinge, die Erdogan dorthin zurückverfrachten will, stammen zumeist gar nicht aus dem Nordosten Syriens, sondern aus Homs, Aleppo und anderen arabischen Gebieten.
Auch die von der Türkei ausgerüsteten und gelenkten syrischen Verbündeten, die den Kampf hauptsächlich führen, stammen nicht aus dem Norden Syriens, sondern sind Araber, teilweise mit einem Hang zu islamistischem Gedankengut. Damit dringt eine von Türken geführte arabische Armee in hauptsächlich von Kurden bevölkertes Gebiet vor, um dieses für Flüchtlinge aus den arabischen Teilen Syriens zu «sichern». Sollte Erdogan diesen Plan tatsächlich umsetzen, wird dies auf lange Zeit hinaus ethnische Konflikte zur Folge haben.
Raum für Assad-Loyalisten
Die Kurden, die in den letzten Jahren als Bodentruppen der internationalen Anti-IS-Koalition die Hauptlast im Kampf gegen die Terrormiliz getragen haben und mit ihrem Projekt «Rojava» das bislang stabilste Gebiet im Bürgerkriegssyrien von Präsident Assad geschaffen haben, werden sich gegen diesen Versuch eines ethnischen Bevölkerungsumbaus mit all ihren bescheidenen Mitteln wehren. Sie werden ihre Kräfte auf den Kampf gegen die Türkei und ihre Verbündeten konzentrieren.
Das schafft im Süden des bislang von den kurdisch geführten «Syrian Democratic Forces, SDF» zusammen mit amerikanischen «Beratern» (und der amerikanischen Luftwaffe) kontrollierten Gebietes Raum für Vorstösse von Assad-Loyalisten sowie vom Iran unterstützten Milizen, die nicht zögern werden, sich die Ölfelder rund um Deir Ezzor zu sichern.
Gleichzeitig sind der Rückzug der Amerikaner und die drohende Invasion der Türkei ein grosses Geschenk für den IS. Die Kurden halten etwa 10'000 Männer und 75'000 Frauen und Kinder des ehemaligen sogenannten «Islamischen Staats» gefangen. Um diese Gefangenen werden sich die Kurden in ihrem Kampf gegen die türkischen Invasoren zuletzt kümmern. Für die Dschihadisten hingegen ist das sich entfaltende Chaos einer ethnischen und religiösen Konfliktzone die ideale Grundlage, um wieder Fuss fassen zu können.