Vorläufig seien Moskaus Streitkräfte ausserstande, die ganze Ukraine einzunehmen und zu kontrollieren, schreiben die Expertinnen und Experten des Londoner Strategieinstituts IISS. Die Einschätzungen des Londoner IISS haben Gewicht. Das Strategieinstitut publiziert jährlich sein Standardwerk «The Military Balance» über die militärischen Kräfteverhältnisse weltweit.
Bei der Lancierung der Ausgabe für 2022 meinte jetzt IISS-Generaldirektor John Chipman, noch habe Russland gar nicht genügend Truppen versammelt, um erfolgreich eine Invasion der ganzen Ukraine zu starten und danach das eroberte Territorium tatsächlich zu halten. Freilich dürften die Kräfte ausreichen für die Eroberung einzelner Landesteile im Osten und Süden sowie für Präzisionsangriffe weit darüber hinaus.
Armee so stark wie nie seit Auflösung der Sowjetunion
Die Moskauer Ankündigung eines Teilabzugs der während Monaten zusammengezogenen Truppenteile sieht das IISS mit Skepsis. Mal schauen, lautet das Credo. Ebenso zurückhaltend äussert sich Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Er gibt sich zwar vorsichtig optimistisch, weil die russische Führung vorläufig bereit ist, sich auf weitere Gesprächsrunden mit dem Westen einzulassen.
Konkrete Anzeichen für eine militärische Entspannung im Terrain sieht er indes bisher keine. Ähnlich zurückhaltend tönen die Einschätzungen aus europäischen Hauptstädten.
Was die Potenz der russischen Streitkräfte betrifft, scheinen die IISS-Strategieexperten ziemlich beeindruckt. Binnen ganz weniger Jahre sei es der Kreml-Führung gelungen, aus Truppen in lamentablem Zustand eine agile, moderne und professionelle Armee aufzubauen. Die russischen Streitkräfte seien mittlerweile kampfstärker als jemals seit der Auflösung der Sowjetunion – und zwar zu Wasser, zu Land und in der Luft.
Experten beurteilen Ukraine langfristig als Nebenschauplatz
Gleichzeitig sind jedoch auch die europäischen Länder besser gewappnet. Nach einer Phase der kräftigen Abrüstung als Folge der Beendigung des Kalten Krieges erhöhen sie seit nunmehr sieben Jahren in Folge ihre Rüstungsausgaben. Im Schnitt allein im vergangenen Jahr teuerungsbereinigt um 4.8 Prozent. Auslöser für die jüngste Aufrüstung war die russische Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim 2014 und der Beginn des Kriegs in der Ostukraine.
Auffallend ist angesichts der dramatischen Einschätzungen und Schlagzeilen der vergangenen Wochen, wie überzeugt die Londoner Strategen sind, dass die aktuelle Fokussierung auf den Konflikt zwischen Russland und dem Westen vorübergehender Natur ist.
Langfristig weitaus bedeutender seien der militärische Machtzuwachs Chinas und Pekings Machtambitionen. Strategisch betrachtet sei das die entscheidende Veränderung, und damit die Rivalität zwischen den Supermächten USA und China. So betrachtet, aus historisch-geostrategischer Sicht, erscheint der aktuelle Konflikt rund um die Ukraine eher als Nebenschauplatz. Selbst wenn er sich momentan für die Bevölkerung der Ukraine und für viele in Europa ganz anders, nämlich weitaus dramatischer ausnimmt.