Als der Schauspieler Wolodimir Selenski Ende April zum neuen Präsidenten gewählt wurde, versprach er, die Politik des Landes komplett umzukrempeln. Das könnte der 41-Jährige, denn wie keiner seit der Unabhängigkeit 1991 hat er die absolute Mehrheit im neuen Parlament. Dieses hielt heute die erste Sitzung ab. Selenski benehme sich zusehends wie ein Patron und der raue Ton gefalle den Ukrainern, sagt Korrespondent David Nauer.
SRF News: Sie haben diese erste Parlamentssitzung verfolgt. Stehen die Zeichen tatsächlich auf Veränderung?
David Nauer: Das kann man sagen. Drei Viertel dieses neuen Parlaments sind Leute, die bisher nicht im Parlament sassen. Sehr viele davon sind jung, zum Teil ziemlich jung. Der heute neue gewählte Premierminister Oleksij Hontscharuk ist ein Vertrauter von Selenski und erst 35 Jahre alt. In der Ukraine sind also erstmals Leute an der Macht, die nicht mehr sowjetisch geprägt sind und das ist etwas Neues und auch ein Unterschied zu Russland.
Das Parlament will in den nächsten Tagen 70 bis 80 Gesetzesvorschläge verabschieden. Was sind die Schwerpunkte?
Es geht vor allem um einen Umbau des politischen Systems. So soll zum Beispiel die parlamentarische Immunität für Abgeordnete aufgehoben werden. Ein Gesetz soll zudem die Absetzung des Präsidenten ermöglichen. Das Signal ist klar: Die Privilegien der Eliten werden abgeschafft oder zumindest beschnitten. Zugleich soll beim nächsten Parlament die Verhältniswahl eingeführt werden. Es gibt mehrere Gesetze gegen Korruption. Selenski sagte heute, bisher sei seine Amtszeit eine Spazierfahrt im ersten Gang gewesen. Mit dem neuen Parlament schalte er nun in den fünften Gang.
Dieses rasante Tempo ist neu für die Ukraine?
Das ist neu. Bisher hat es in der Ukraine stets mehrere Machtzentren gegeben. Den Premierminister, den Präsidenten, das Parlament haben oft sehr lange miteinander gekämpft und sich gegenseitig gelähmt. Die Ukrainer waren politmüde und angewidert von der politischen Elite. Das ist jetzt anders. Selenski kontrolliert sämtliche Institute des Staates und kann also ungehindert Reformen umsetzen und möchte das auch tun.
Er ist gut 100 Tage im Amt. Wie geht Selenski mit dieser Macht um?
Er scheint Gefallen daran zu finden. Zum einen hat er sehr ehrgeizige Reformpläne, zum anderen benimmt er sich allmählich wie ein Patron. Er hat in den letzten Wochen zum Teil Beamte richtiggehend angeherrscht und davongejagt. Er tritt als knallharter Boss auf, der mit den korrupten Beamten aufräumt. Für meinen Geschmack ist das kein angemessener Umgangston für einen Präsidenten, aber viele Ukrainern gefällt genau dieser Ton.
Ein Wahlversprechen war die Beendigung des Kriegs im Donbass und ein Gefangenenaustausch. Wie kommt die Politik in Russland an?
Man hat das Gefühl, dass die Russen langsam etwas auftauen. Selenski hat von Beginn weg signalisiert, dass er an besseren Beziehungen zum Kreml interessiert ist. Die Russen haben über Monate hinweg nicht reagiert. Das ändert sich jetzt und es sieht danach aus, als ob eine Entspannung möglich wäre. Der wichtigste Hinweis darauf ist, dass offenbar sehr intensive Gespräche über einen Gefangenenaustausch laufen. Das könnte schon in den nächsten Tagen passieren. Wenn es soweit kommt, wäre das zum ersten Mal seit längerer Zeit ein gutes Zeichen für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern.
Das Gespräch führte Simone Hulliger.