Wer Kriegspartei ist, regelt das Völkerrecht. Und im Kontext des Kriegs in der Ukraine ist es eigentlich klar, wer als solche gilt: Russland als Aggressor, der das Völkerrecht bricht, die Ukraine, welche völkerrechtskonform vom Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch macht. Strittig ist der Fall nur bei Belarus.
Geht man vom Völkerrecht aus, gilt kein westlicher Staat als Kriegspartei – trotz Waffenlieferungen und Ausbildungsprogrammen. Dennoch bezeichnet Wladimir Putin sie als solche. Was will der Kremlchef damit bewirken? Leandra Bias, Politikwissenschaftlerin und Expertin für russische Aussenpolitik, ordnet ein.
SRF News: Derzeit kann kein westlicher Staat als Kriegspartei bezeichnet werden – so geht es aus dem Völkerrecht hervor. Warum tut es Putin trotzdem?
Leandra Bias: Mir ist wichtig, zu betonen, dass dies keine neue Rhetorik ist. Spätestens seit der Krim-Annexion 2014 stilisiert Wladimir Putin den Westen zum Feindbild. Die Erzählung geht so: Russland führt keinen Krieg gegen die Ukraine, sondern gegen den Westen, gegen die Nato, die EU, die USA – welches Feindbild für Putin gerade opportun ist. Hauptsache, Russland steht als Opfer westlicher Einverleibung da. So wird der Angriffs- zum Verteidigungskrieg.
Ein bekanntes Muster?
Ja, diese Logik wurde von Tag eins der Invasion bedient. Putin widmete mehrere Absätze in seiner Rede am 24. Februar der angeblichen Schuld des Westens. Und sobald sich abzeichnete, dass der militärische Erfolg nicht schnell kommen würde, änderte sich der Diskurs. Weg von der Spezialoperation, hin zur unfairen Konfrontation mit dem gesamten Westen.
Und als Russland mit Scheinreferenden die ukrainischen Gebiete Cherson, Saporischja, Luhansk und Donezk einverleiben wollte, sagte der Kreml, dass jetzt der Westen mit seiner Unterstützung direkt russisches Gebiet angreife und so zur Kriegspartei werde. Damit will Putin im Voraus eine Legitimationsgrundlage für weitere Eskalationen schaffen und gleichzeitig im Westen Angst schüren – etwa vor einem Atomschlag. Aber es geht ihm nicht nur darum.
Wie meinen Sie das?
Wenn er die westlichen Staaten als Kriegsparteien darstellt, kann er zum einen verschleiern, dass es um die Ukraine geht. Vielmehr geht es um den Erhalt des eigenen autoritären Regimes mit allen Mitteln und dass es dazu keine selbstbestimmte, demokratische Ukraine geben darf.
Und zum anderen kann er so an die russische Erinnerungskultur anknüpfen, welche in der Bevölkerung verfängt und gerade Deutschland mit seiner Rolle im Zweiten Weltkrieg – oder dem grossen vaterländischen Krieg, wie er in Russland genannt wird – für seine Propaganda angreifbar macht.
Verfängt diese Propaganda in westlichen Ländern?
Das tut sie – und dies ist ein Problem. Denken wir die vom Kreml gewollte Kettenreaktion zu Ende: Indem er die Bevölkerung westlicher Demokratien glauben machen will, dass Russland nicht die Schuld an diesem Krieg trage, ja sogar ein Opfer westlicher Geopolitik sei, will er Verständnis für sein Vorgehen erhalten und so gleichzeitig die Unterstützung für die Ukraine schwächen.
So will Putin den Krieg gewinnen, sein System stärken – und gleichzeitig die Erosion der Demokratien herbeiführen.
Und je schwächer diese wird, desto unwahrscheinlicher wird es, dass man hierzulande bereit ist, die Hilfe für die Ukraine aufrechtzuerhalten – sei dies mit der Lieferung von Kriegsmaterial, sei dies mit der Bereitschaft, im Privatleben Einbussen hinzunehmen, weil etwa weniger geheizt werden kann. So will Putin den Krieg gewinnen, sein System stärken – und gleichzeitig die Erosion der Demokratien herbeiführen.
Das Gespräch führte Pascal Studer.