Viele Tourismus-Destinationen in Italien leiden stark unter dem «Overtourism». Aber die Umsetzung von Massnahmen ist knifflig. Venedig zögert zum Beispiel mit der Umsetzung einer Zutrittsgebühr. Anderswo sollen nun erste Massnahmen ergriffen werden, so hat Rom eine Eintrittsgebühr für das Pantheon eingeführt. Und in der Cinque Terre fordert man die Politik in Rom zum Handeln auf, wie SRF-Italien-Korrespondentin Simona Caminada unten ausführt.
Zur Einstimmung aber zunächst einige besonders eindrückliche Bilder italienischer Tourismusziele, fotografiert vor und nach der Covid-Pandemie.
«Dieses Jahr wird es negative Publicity geben, so viel ist klar», sagt Claudio Vernier, Kaffeebesitzer am berühmten Markusplatz in Venedig. Tausende von Touristen sind hier täglich unterwegs. Auf dem Platz bilden sich vor den Sehenswürdigkeiten lange Schlangen und in den engen Gassen der Lagunenstadt gibt es an gewissen Tagen fast kein Durchkommen mehr.
Der Fehler war, dass man dachte, dass viele Leute viel Geld bedeuten und man nie den Mut hatte, die Touristenströme zu steuern.
Die Lage spitzt sich mehr und mehr zu. Jährlich besuchen über 30 Millionen Touristinnen und Touristen Venedig; viele davon bleiben jedoch nur für wenige Stunden. Auch wenn Vernier vom Tourismus lebt, fordert er, dass endlich etwas passiert.
«Der Fehler war, dass man dachte, dass viele Leute viel Geld bedeuten und man nie den Mut hatte, die Touristenströme zu steuern.» Das werde sich nun rächen. Venedig sei so für die Besucher kein Erlebnis mehr. Der Ruf der Stadt werde durch den Overtourism nachhaltig ruiniert.
Der jahrelange Streit um das Eintrittsticket
Seit Jahren kursiert die Idee eines sogenannten Eintrittstickets für Venedig. Vor allem für die vielen Tagestouristen. Doch bis heute gibt es kein solches Ticket. Kritik wurde laut, Venedig könnte damit endgültig zum Museum, zum Disneyland verkommen.
Nun stehe die Idee einer sogenannten Reservierungspflicht für bestimmte Tage im Raum, sagt der zuständige Stadtrat Simone Venturini: «Die Reservierung soll den Tagestourismus einschränken. Heisst, die Person nimmt online eine Reservierung vor. Sie sieht, ob es für diesen Tag überhaupt eine braucht, sie sieht schon mal, ob dieser Tag ein Tag mit vielen Menschen wird, und vielleicht entscheidet sie sich dann, erst am nächsten Tag oder in einer Woche zu kommen. Dann, wenn die Stadt leerer ist.» Die Reservierungen sollen sporadisch an verschiedenen Punkten in der Stadt kontrolliert werden.
Sonntags wird die Insel Burano mit ihren 2000 Bewohnern von 10'000 Touristen überfallen.
Leer, das war Venedig während der Pandemie. Die fragile Lagunenstadt mit ihren knapp 50'000 Einwohnerinnen und Einwohner konnte sich erholen und durchatmen. Für viele Einheimische sei die Stadt plötzlich wieder lebbar geworden, erzählt Marco Gasparinetti. Er sitzt im Gemeindeparlament und gehört zu jenen, die sich für einen kontrollierten Tourismus einsetzen. Von dieser Pandemieauszeit sei jetzt nichts mehr übrig. «Ein problematisches Beispiel ist auch die kleine Laguneninsel Burano, mit bunten Häusern und 2000 Einwohnern. Sonntags wird sie von 10'000 Ausflüglern überfallen. Viele Leute, die für ein paar wenige Stunden nach Burano gehen und dann drei Stunden in der Schlange stehen, um mit dem Vaporetto zurückzufahren, das ist unerträglich.»
Gasparinetti fordert, dass die Reservierungspflicht kommt, aber nicht kostenpflichtig, so wie sich das der Stadtrat vorstellt, sondern gratis. Es gehe doch um eine Lenkung der Ströme und nicht darum, dass die Touristinnen zahlen müssten und dafür nichts erhalten würden.
Wichtiger Wirtschaftszweig
Italien: Mit seinen über 50 Unesco-Welterbestätten zieht es jährlich Millionen von Touristen an. Vor allem Hotspots wie Venedig, Florenz, die Cinque Terre oder das Südtirol werden von Besucherinnen und Besuchern regelrecht überrannt. Der Tourismus ist jedoch ein bedeutender Wirtschaftszweig des Landes. Nach Schätzungen der Bank von Italien erwirtschaftet der Tourismus direkt mehr als fünf Prozent des nationalen BIP. 13 Prozent, wenn man auch das indirekt erwirtschaftete BIP berücksichtigt. Mehr als 1.3 Millionen der Beschäftigten arbeiten im Tourismussektor.
Im Zentrum Roms ist die Wohnbevölkerung in fünf bis sechs Jahren um fast die Hälfte geschrumpft.
Auch Rom ist ein Touristen-Hotspot. Mit seinen gut 3 Millionen Einwohnern lockte die Ewige Stadt vor der Pandemie, also 2019, über 19 Millionen Touristinnen und Touristen an. Dieses Jahr wird erwartet, dass dieser Rekordwert gar übertroffen wird. Die Geschwindigkeit, mit der sich der Tourismus in Italien nach den Pandemiejahren wieder erholt habe, sei beeindruckend, sagt Filippo Celata. Doch der Erfolg habe auch seine Schattenseiten, so der Professor für Wirtschaftsgeografie, der auch zu Overtourism forscht.«Im Zentrum Roms ist die Wohnbevölkerung in fünf bis sechs Jahren um fast die Hälfte geschrumpft.»
Airbnb lukrativer als an Einheimische zu vermieten
Für Hausbesitzer sei die Kurzzeitvermietung an Touristen über Plattformen wie Airbnb viel lukrativer, als an Einheimische zu vermieten. Das führe zu einer Abwanderung in die Aussenquartiere Roms, so Celata. «Ein Grossteil der Innenstadt, ihre Dienstleistungen, ihre öffentlichen Räume sind ausschliesslich für Touristen bestimmt. Und das nicht nur wegen privater Investoren, sondern auch wegen der öffentlichen Institutionen, die die Stadt so gestalten. Dieser Teil ist dann in Wirklichkeit kein Ort mehr zum Leben, sondern eine Art riesiger Vergnügungspark.»
Lange sei der Tourismus als Quelle für den Reichtum angeschaut worden, sogar als die einzige Form der Entwicklung. «Dieser Diskurs gerät nun endlich ins Wanken, denn im Grunde genommen ist das Modell der touristischen Entwicklung auch ein Modell, das sich durch leichte Einnahmen auszeichnet.» Das wiederum habe dazu geführt, dass Investitionen oder wirtschaftliche Aktivitäten verhindert worden seien.
Das Südtirol greift durch
Wo Venedig oder Rom noch nach einem Gleichgewicht zwischen Tourismus und Einheimischen suchen, hat die autonome Region Südtirol durchgegriffen, und zwar in Form einer sogenannten Bettenobergrenze. 2019 verzeichnete die Region 34 Millionen Übernachtungen – das war Rekord und gleichzeitig Grund zum Handeln.
Wir können es uns nicht leisten, die Akzeptanz der Bevölkerung zu verlieren, und wir können es uns nicht leisten, an Qualität abzubauen
«Man hat gespürt, dass sich hier etwas verändert, dass es immer mehr auch Kritik gegeben hat.» Landesrat Arnold Schuler sagt, man habe die Grenzen erreicht, nicht nur, was die Anzahl Touristen anbelange, sondern auch bei der Verkehrsbelastung oder dem Mangel an Fachkräften. Deshalb wurden in der Region alle Betten, Zustellbetten und Couchs gezählt und erfasst. Sie bilden die Datenbasis und dürfen die Zahl der Übernachtungen von 2019 nicht überschreiten.
Aber kann sich eine Region wie das Südtirol, welches dermassen vom Tourismus abhängig ist, eine solche Bettenobergrenze überhaupt leisten? «Auf alle Fälle. Wir müssen uns das leisten können. Alles andere können wir uns nicht leisten. Wir können es uns nicht leisten, die Akzeptanz der Bevölkerung zu verlieren, und wir können es uns nicht leisten, an Qualität abzubauen», sagt Schuler.
Gleichbehandlung als Problem
Doch auch die Bettenobergrenze ist nicht ohne Kritik geblieben. Bemängelt wurde, dass nun in der Region alle Orte gleichbehandelt würden – also die überfüllten Zentren gleich wie die abgelegenen Orte, die durchaus noch Potenzial hätten. In Kastelruth, etwas abseits der grossen Zentren, liegt der Familienbetrieb Plunger – ein Hotel mit 24 Zimmern.
Martin Plunger führt den Betrieb seit vielen Jahren. Dass im Südtirol etwas passieren musste, das sieht er ein. «Die Lösung von Herrn Schuler ist eine etwas radikale Lösung, muss man sagen. Was man meiner Meinung nach auch in Zukunft sicher bedenken sollte: dass die Jugend in den Betrieben auch weiterarbeiten sollte. Und gerade den Jugendlichen, denen sollte man gewisse Entwicklungsmöglichkeiten in den Betrieben geben», so Plunger.
Der Grat ist schmal in Italien: Tourismus und Einheimische in ein Gleichgewicht zu bringen, ist ein hartes Stück Arbeit.