Zum Inhalt springen

Umstrittene Briefwahl Sieben Gründe, warum die US-Wahlen fair ablaufen werden

Präsident Donald Trump warnt vor Wahlbetrug. Doch die US-Wahlen sind fair, so das Urteil unserer USA-Korrespondentin Isabelle Jacobi.

«Wie sicher sind Sie, dass die Wahlen fair ablaufen werden?», fragte der amerikanische Fernsehhost Chris Wallace die beiden US-Präsidentschaftskandidaten in der Nacht auf Mittwoch bei der ersten Präsidentschafts-Debatte.

Die Antworten der Kontrahenten hätten nicht unterschiedlicher ausfallen können. Joe Biden geht davon aus, dass es trotz der Pandemie eine faire und saubere Wahl geben wird. «Wenn ich mehr Stimmen bekomme, dann muss Trump gehen.» Daran gebe es nichts zu rütteln.

Ein Mann steht im Anzug vor einem Sprecherpult und wirft die Hände in die Luft.
Legende: Bei der ersten Präsidentschafts-Debatte zweifelte Donald Trump daran, dass die Wahlen fair ablaufen werden. Keystone

US-Präsident Donald Trump hingegen wittert eine Verschwörung. Die Demokraten hätten es schon 2016 auf ihn abgesehen und mit unlauteren Mitteln für einen Sieg gekämpft. Auch dieses Mal sei es so.

Eine grossflächige Briefwahl, wie es sie dieses Jahr wegen der Pandemie geben wird, werde zu Wahlbetrug in grossem Stil führen, so der Präsident. Wahlunterlagen würden dann gestohlen und gefälscht. «Es ist ein abgekartetes Spiel.» Zudem werde es möglicherweise Monate dauern, bis ein Resultat feststehe.

Was stimmt nun? Hier sind sieben Gründe, warum die Präsidentschaftswahlen trotz schwerwiegender Probleme fair ablaufen werden:

1. Die Vorwahlen waren ein Schuss vor den Bug

Kanarienvögel wurden früher in Kohlminen als Alarmsysteme eingesetzt. Wenn Kohlenmonoxid in die Stollen ausströmte, verstummte der Vogel und diente so als Warnung für die Kohlearbeiter, möglichst schnell an die frische Luft zu flüchten.

Für viele Bundesstaaten waren die Vorwahlen der Demokraten «a canary in the coal mine», wie die Amerikaner sagen würden. In New York dauerte es diesen Sommer sechs Wochen, bis das Resultat feststand. Die Post war durch die Verzehnfachung der per Briefwahl eingereichten Formulare völlig überfordert.

Ein älterer Mann mach zusammen mit zwei Frauen ein Selfie.
Legende: Bei den Vorwahlen in New Hampshire im Februar waren Corona und chaotische Auszählungen noch kein Thema. Keystone

«Bei der Briefwahl kam es in zahlreichen Staaten von Kalifornien bis Massachusetts zu massiven Problemen», sagt USA-Korrespondentin Isabelle Jacobi. Es habe sich jedoch um organisatorische Schwierigkeiten gehandelt: «Niemand konnte Wahlbetrug in grösseren Dimensionen nachweisen.»

Spätestens seit dem Sommer sei klar: Viele Bundesstaaten und die Post müssten sich dramatisch verbessern, wenn die Präsidentschaftswahlen einigermassen geschmeidig über die Bühne gehen sollen, sagt Jacobi. Dieser Schuss vor den Bug wird hoffentlich dazu beitragen, dass es am 3. November weniger chaotisch zu und her geht wie bei den Vorwahlen.

2. Grosser Wahlbetrug – bisher nur Fantasie

Für Donald Trump ist die Sache klar: Die Demokraten werden alles tun, um die Wahl zu stehlen.

Das seien «reine Fantasien», sagt SRF-Korrespondentin Jacobi. Natürlich könne man Wahlbetrug nicht völlig ausschliessen. Bisher hätten zahlreiche Studien jedoch dargelegt, dass bei US-Wahlen nicht systematisch betrogen werde.

Trotzdem ist das Gespenst des Wahlbetrugs nicht förderlich für die Demokratie. «Das Vertrauen in die Wahlen ist auf beiden Seiten stark erschüttert», so Jacobi. Nicht nur die Republikaner, auch die Demokraten glaubten inzwischen daran, dass der politische Gegner bei der Wahl auf Betrug setze.

3. Briefwahl – eine lange Tradition

Donald Trump hat nichts gegen die Briefwahl an sich, wie er immer wieder beteuert. Schliesslich wählt er selber per Brief. Ein Dorn im Auge ist ihm aber, wenn Wahlunterlagen millionenfach unaufgefordert und flächendeckend verschickt werden, wie wir es in der Schweiz kennen.

Doch auch wenn die systematische Briefwahl in den USA eine Ausnahme ist (siehe Karte oben), die Briefwahl an sich hat eine lange Tradition. Sie reicht bis zum Bürgerkrieg zurück. 1864 führten 19 Bundesstaaten die Briefwahl für Soldaten ein. Auch wer auf dem Schlachtfeld war, sollte an der Präsidentschaftswahl teilnehmen dürfen. Und bis heute wählen viele Soldatinnen und Soldaten, die in Übersee stationiert sind, brieflich.

Seit dem 19 Jahrhundert wurde die Briefwahl in vielen Staaten ausgeweitet und ausgefeilt. Erfahrungen damit gibt es also zur Genüge.

4. Zeit zum Nachzählen

Die Präsidentschaftswahlen 2000 gingen als unrühmliches Beispiel in die Geschichte der amerikanischen Demokratie ein. Im Bundesstaat Florida war das Ergebnis äusserst knapp und es musste gezählt und nachgezählt werden. Es dauerte über einen Monat, bis das offizielle Ergebnis vom Supreme Court, dem obersten Gericht der USA, für gültig erklärt worden war.

Ein Mann untersucht eine Lochkarte.
Legende: Ein Richter untersucht im November 2000 eine Lochkarte, die bei der umstrittenen Wahl in Florida verwendet wurde. Keystone

Auch dieses Jahr könnte es in einigen «Swing States» zu knappen und heftig umstrittenen Wahlergebnissen kommen. Auch diese Wahlen könnten schliesslich vor Gericht entschieden werden.

Die gute Nachricht: Der gewählte Präsident muss erst im Januar das Zepter übernehmen. Die Verfassung besagt klar, dass die aktuelle Präsidentschaft spätestens am 20. Januar um 12 Uhr endet. Es bleibt im Zweifelsfall genug Zeit, umstrittene Resultate zu überprüfen.

Das Horrorszenario, das einige Kommentatoren ausmalen, dass sich sowohl Biden als auch Trump zum Wahlsieger erklären und am 20. Januar das Amt antreten wollen, bleibt hoffentlich ein Gedankenspiel.

5. Die Justiz nimmt die Post an die kurze Leine

Im Juni trat Trumps neuer Post-Chef Louis DeJoy an und machte prompt verschiedene Reformen, die zu einer Behinderung des Postbetriebs führten. Inzwischen gab es dazu Untersuchungen des Kongresses und einige der «Reformen» mussten per Gerichtsbeschluss zurückgenommen werden. «Man kann davon ausgehen, dass die Post versuchen wird, die Wahlzettel rechtzeitig abzuliefern», sagt USA-Korrespondentin Jacobi.

Zwei Personen demonstrieren mit Schildern gegen Änderungen bei der US-Post.
Legende: Die vom Post-Chef Louis DeJoy umgesetzten Reformen bei der Post sind höchst umstritten. Keystone

6. Wählerunterdrückung funktioniert nur teilweise

In den USA wird schon seit Jahrzehnten versucht, die Wählerbasis zu verkleinern. Ein besonders grosses Interesse daran haben die Republikaner. Mittels ID-Kontrollen und gesetzlichen Bestimmungen wird versucht, ganze Bevölkerungsgruppen (meistens Minoritäten) von der Wahlurne fernzuhalten.

Notorisch sei etwa North Carolina, sagt Isabelle Jacobi. Dort habe ein Bundesgericht letztes Jahr die Wahlrechtsreform der regierenden Republikaner gestoppt, die laut dem Gericht «chirurgisch darauf ausgerichtet war, die afroamerikanische Bevölkerung zu diskriminieren».

Also ja, es gibt «voter supression», es gibt Diskriminierung. «Aber niemand kann direkt davon abgehalten werden, zu wählen», sagt Jacobi.

7. Die US-Demokratie steht auf dem Prüfstand

Egal wer aus diesen Wahlen als Gewinner hervorgeht, auf dem Spiel steht viel mehr als nur die Präsidentschaft. Das Vertrauen der Amerikaner in die Wahlen sei auf einem historischen Tiefpunkt, so die Analyse unserer Korrespondentin Isabelle Jacobi. «Diese Zweifel am demokratischen System haben sich in den Köpfen der Amerikaner festgesetzt.»

«Was geht, Amerika?» – Ein Nachrichten-Podcast zu den US-Wahlen

Box aufklappen Box zuklappen

In mehreren Folgen befasst sich der SRF-Podcast «Was geht, Amerika?» mit den wichtigsten Fragen zur US-Präsidentschaftswahl. Roger Aebli spricht mit USA-Korrespondentin Isabelle Jacobi. Zu hören: samstags im News Plus+ Podcast.

Chaos am Wahltag und ein knappes Ergebnis könnten zu einer Verfassungskrise führen. «Ich würde sagen, die US-Demokratie steht wirklich auf dem Prüfstand dieses Jahr», sagt Jacobi. Es ist ein Prüfstand, bei dem man hoffen muss, dass ihn das Land besteht. Denn die Alternative, die darf man sich nicht ausmalen.

Meistgelesene Artikel