Fast 25 Jahre nach dem Untergang der Ostsee-Fähre «Estonia» mit 852 Todesopfern entscheidet ein französisches Gericht über Schadenersatz-Forderungen von rund 1000 Überlebenden und Opfer-Angehörigen.
SRF-Nordeuropa-Mitarbeiter Bruno Kaufmann war 1994 kurz vor der Katastrophe selber mit der «Estonia» unterwegs. Seither hat er das Unglück journalistisch begleitet.
SRF News: Warum kommt die Entscheidung zum Schadenersatz erst ein Vierteljahrhundert nach der Katastrophe?
Bruno Kaufmann: Weil sich bislang alle Beteiligten und möglichen Verantwortlichen dagegen gewehrt hatten, dass ein unabhängiges Gericht die Schuldfrage prüft. Zudem hatte die verantwortliche Reederei Estline gewisse Schadenersatzforderungen von Überlebenden und Angehörigen von Todesopfern nach dem Unglück erfüllt.
Wieso wird der Schadenersatz-Prozess jetzt vor einem französischen Gericht behandelt?
Die Prüfungsstelle Veritas – sie hatte die Seetüchtigkeit des späteren Unglückschiffs bestätigt – hat ihren Hauptsitz im Pariser Vorort Nanterre. Dort findet jetzt auch der Prozess statt.
Die Werft soll eine Fehlkonstruktion gebaut, die Prüfungsstelle ein untaugliches Schiff zertifiziert haben.
Angeklagt ist neben der französischen Prüfungsstelle auch die deutsche Werft, welche die Fähre gebaut hat. Was wird ihnen konkret vorgeworfen?
Der Meyer Werft im norddeutschen Papenburg wird vorgeworfen, das Schiff mit einem Konstruktionsfehler gebaut zu haben. Auch hätte die «Estonia» nicht auf solch langen Routen auf hoher See fahren dürfen. Der Prüfungsstelle wiederum wird zu Last gelegt, ein eigentlich untaugliches Schiff zertifiziert zu haben.
Wieso konnte nie genau geklärt werden, wie es zum Unglück kam?
Bei dem tragischen Unfall kamen viele unglückliche Umstände zusammen, die schliesslich zur Katastrophe führten. Der Fall ist sehr komplex: Eine schwedische Reederei betrieb die Fähre mit einer estnischen Besatzung, am Unglücksort in den internationalen Gewässern der Ostsee waren in der Nacht finnische Rettungskräfte im Einsatz. Alle Beteiligten haben in irgendeiner Weise versagt. Deshalb hatten alle beteiligten Länder ein Interesse daran, den Fall zu begraben.
Was weiss man heute über den Ablauf der Ereignisse, die am 28. September 1994 zum Sinken der «Estonia» geführt haben?
Die Fähre verliess am Abend des 27. Septembers bei starken Winden den Hafen von Tallinn und ging auf halbem Weg nach Stockholm unter. Gesichert ist auch, dass die aufklappbare Bugklappe, durch die Autos und Lastwagen be- und entladen wurden, wohl durch den starken Seegang abgerissen wurde. Daraufhin drang Wasser in die Autodecks ein. Wegen eines fehlerhaften Kollisionsschotts konnte das Vollaufen des Schiffes nicht gestoppt werden und es sank innert weniger Minuten.
Kann mit dem Urteil aus Frankreich jetzt ein Art Schlussstrich unter die Katastrophe gezogen werden?
Nein, wohl kaum. Die Angeklagten haben bereits angekündigt, sie würden das Urteil weiterziehen, falls das Gericht die Schadenersatzforderungen gutheissen sollte. Und sollte das Gericht die Forderungen ablehnen, bleibt die grosse Wunde offen. Man muss sehen: Zehn Prozent aller Schweden kannte damals jemanden, der auf der «Estonia» starb und auf dem Grund der Ostsee blieb.
Das Gespräch führte Roger Aebli.