Very british, urban, elitär: «Unsere typischen Leser sind sehr aufgeschlossen, international und europäisch orientiert», sagt Vendeline von Bredow vom britischen «Economist». Kein Wunder, sind auch die Journalisten bekennende «Remainer»: Sie wehrten sich mit Feuereifer gegen den Brexit.
Just zum Ende eines turbulenten Jahres in Sachen Brexit ist klar: «Boris Almighty» führt Grossbritannien aus der EU. Widerstand ist zwecklos. Der Jubel bei den Brexiteers ist gross. Genauso wie der Katzenjammer bei den Remainern.
Das spürte auch von Bredow: «Es gab einem Moment, wo ich die Welt nicht mehr verstanden habe.» Dass bei den Briten, die so bekannt seien für ihre Toleranz und Seelenruhe, eine solche Polarisierung einsetzte, war Neuland für sie: «Beim Thema Brexit haben alle die Ruhe verloren.»
Von Bredow berichtet vom europäischen Kontinent, mit dem «Inseleuropäer» seit geraumer Zeit fremdeln. Wie gehässig die Tonlage beim Dauerbrenner Brexit werden kann, erlebte die Journalistin aber hautnah. Dem liberalen Blatt wehte eine steife Brise entgegen: Die Redaktion wurde mit «äusserst kritischen» Leserbriefen eingedeckt. Gehört dazu, findet von Bredow.
Doch auch auf der Redaktion selbst wurde kontrovers diskutiert: Manövriert sich der «Economist» mit seinem kategorischen Nein zum Brexit in eine Nische? Die Zeitung sei schliesslich auch stark auf den US-Markt orientiert: «Und wir wollen ja nicht so dastehen, dass unsere Leser denken: Die unterstützen nur die Demokraten oder sind der Remain-Seite gegenüber total unkritisch eingestellt.»
Trotz der Aufklärungsarbeit: Die Haltung in der britischen Öffentlichkeit habe sich seit dem Referendum im Jahr 2016 kaum verändert, sagt die Wirtschafts- und Finanzexpertin: «Von den Brexit-Anhängern haben nur sehr wenige ihre Meinung geändert.» Obwohl sie bei der Abstimmung kaum etwas darüber gewusst hätten, was der Austritt aus der EU praktisch bedeute.
Die Debatte wurde auf einer sehr ideologischen, emotionalen Ebene geführt
Als Beispiele nennt die Journalistin die komplexe Aushandlung neuer Handelsabkommen mit der EU oder die unklare Zukunft für sonnenhungrige Briten, die ihren Lebensabend gerne in Spanien verbringen. Trotzdem wagten die Brexiteers den Sturz ins Ungewisse.
«Das hat mich verwundert», sagt von Bredow. Für die Warnrufe des «Economist» war die Mehrheit der Briten unempfänglich: «Die Debatte wurde auf einer sehr ideologischen, emotionalen Ebene geführt.»
Muss sich der «Economist» den Vorwurf gefallen lassen, die Stimmung in der Bevölkerung falsch eingeschätzt zu haben, den schwelenden Unmut gegenüber Liberalisierung und Globalisierung? Man habe die Verzweiflung in abgewirtschafteten Regionen Grossbritanniens unterschätzt, räumt von Bredow ein: «Die Wunden liegen dort sehr tief. Seit Jahrzehnten. Und sie sind überhaupt nicht verheilt.»
Nun herrscht Klarheit: «Get Brexit Done», wie Boris Johnson im Wahlkampf trommelte. Eine Chance insofern, als sich Grossbritannien endlich aus seiner Lähmung befreien kann, hofft die Journalistin: «Man weiss jetzt wenigstens, wo es lang geht.» Doch auch 2020 würden die Brexit-Wehen weitergehen.
«Johnsons ehrgeiziges Ziel, bis Ende 2020 ein Handelsabkommen mit der EU zu verhandeln, ist nahezu unmöglich.» Denn der Teufel liege im Detail. «Die grössten Schwierigkeiten kommen erst», prognostiziert von Bredow. So wird der Brexit den «Economist» weiter begleiten – auch wenn er sich nicht mehr verhindern lässt.