Nach nur einer Amtszeit war Jimmy Carters Präsidentschaft zu Ende: Bei den Präsidentschaftswahlen am 4. November 1980 holte sein Gegner Ronald Reagan fast 8.5 Millionen Stimmen mehr und siegte in 44 von 50 US-Bundesstaaten.
Eine aussenpolitische Krise trug zur krachenden Niederlage bei. Exakt ein Jahr vor der Wahl war die US-Botschaft in Teheran gestürmt worden, dutzende US-Bürgerinnen und -Bürger wurden zu Geiseln der Iraner – also zu Geiseln des neuen Regimes von Ayatollah Chomeini.
Die Versuche der Carter-Regierung, sie freizukriegen, blieben erfolglos: Eine Rettungsaktion des US-Militärs scheiterte kläglich und auch Verhandlungen mit Teheran liefen ins Leere. Am Wahltag in den USA befanden sich immer noch 52 Geiseln in iranischer Gewalt.
Theorie: Geiseln sollten nicht frei kommen
Schon früh kam die Vermutung auf, Reagans Wahlkampfchef habe verhindern wollen, dass Carter die Geiseln noch vor der Präsidentschaftswahl freibekomme. William Casey habe heimlich mit den Iranern verhandelt – und sie aufgefordert, die Geiseln nicht vor der Wahl freizulassen. Damit habe er Präsident Carter kurz vor der Wahl einen diplomatischen Erfolg verwehren wollen.
Dieser Vorwurf steht seit Jahrzehnten im Raum: Gary Sick, Iranexperte im Weissen Haus unter Präsident Carter, schrieb ein Buch, um die Theorie des geheimen Deals mit den Iranern zu untermauern.
Und auch Jonathan Alter, Autor der einer Carter-Biografie, ist überzeugt davon. Alter sagt, auch der heute 98-jährige Jimmy Carter habe schon früh vermutet, dass das Reagan-Lager auf diese Weise versucht habe, ihn zu sabotieren: «Carter glaubte daran und wartete stets auf Enthüllungen, die es beweisen würden.»
Reagans Mann für die Arbeit im Verborgenen
William Casey verfügte jedenfalls über die nötigen Fähigkeiten, um im Geheimen die Iraner zu kontaktieren. Er hatte im Zweiten Weltkrieg für das OSS, die Vorgängerorganisation des Auslandsgeheimdienstes CIA, gearbeitet. Später, unter Reagan, wurde Casey CIA-Direktor.
«Er hatte viel Erfahrung damit, im Verborgenen zu arbeiten», sagt Jonathan Alter über Reagans Wahlkampfleiter. Der Autor ist überzeugt, Casey habe versucht, Präsident Carter zu torpedieren.
Doch vorerst fehlten die Beweise. Ein Untersuchungsbericht des US-Kongresses kam 1993 zum Schluss, ein Versuch des Reagan-Teams, die Freilassung der Geiseln zu verzögern, lasse sich nicht nachweisen.
Erst später wurde klar, dass ein Dokument der US-Botschaft in Spanien existiert, das erwähnt, Casey sei 1980, nur Monate vor der Präsidentschaftswahl, nach Madrid gereist. Der Zweck der Reise bleibt unerwähnt.
Damit lasse sich eine Theorie beweisen, zu deren Anhängern auch Jonathan Alter gehört: Casey sei nach Madrid gereist und habe sich dort in einem Hotel mit den Iranern getroffen, um zu erreichen, dass sie mit der Freilassung der Geiseln zuwarteten.
Texanischer Politiker beichtet nach 40 Jahren
Der Vorwurf, Reagans Wahlkampfleiter habe die Freilassung von US-Bürgern verzögert, wiegt schwer. Doch was sich wie eine abenteuerliche Verschwörungstheorie anhört, wurde über die Jahrzehnte hinweg immer plausibler.
Und die Hinweise haben sich vor kurzem weiter verdichtet: Ein einst hochrangiger Politiker aus Texas hat nach über 40 Jahren sein Schweigen gebrochen. Ben Barnes erklärte in der «New York Times», jetzt, da Carters Gesundheitszustand sehr schlecht und sein Tod absehbar sei, sei es an der Zeit, zu erzählen, was er erlebt habe.
Er sei damals mit John Connally, dem ehemaligen republikanischen Gouverneur des Bundesstaates Texas, durch den Nahen Osten gereist. Connally habe versucht, den Iranern über Mittelsmänner zu signalisieren, sie sollten die Geiseln nicht vor dem Wahltag in den USA freilassen. Im Anschluss an die Reise hätten Barnes und Connally sich mit Wahlkampfchef Casey getroffen. In der Lounge eines Flughafens hätten sie ihn über das Resultat der Reise ins Bild gesetzt.
Das zeige, dass Casey auf mehreren Ebenen versucht habe, mit den Iranern ins Geschäft zu kommen, ist sich Biograf Jonathan Alter sicher: «Wir haben einen rauchenden Colt, einen Beweis dafür, dass Casey eine Verschwörung plante; wenn auch keinen klaren Beweis dafür, dass es zwischen Casey und den Iranern auch wirklich zu einem Deal kam.»
Waffen als Gegenleistung?
Jonathan Alter vermutet, Casey habe den Iranern im Gegenzug Waffen angeboten. Tatsächlich lieferten die USA unter Präsident Reagan im Geheimen über Israel Waffen nach Iran – und finanzierten mit den Einnahmen die rechtsgerichtete Guerilla-Bewegung der «Contras» in Nicaragua. Das führte zu einem grossen Skandal, bekannt als Iran-Contra-Affäre.
Die USA hätten schon in den Wochen und Monaten nach der Amtseinführung von Ronald Reagan Waffen nach Iran geschleust, sagt Alter. «Bis jetzt habe ich keine überzeugende Erklärung dafür gehört, weshalb das damals im nationalen Interesse der USA gewesen sein soll», sagt er.
Man dürfe deshalb vermuten, die Reagan-Regierung habe damit ihren Teil des Deals mit den Iranern erfüllt. Sicher ist: Es gelang Präsident Carter nicht, die Geiseln noch vor der Präsidentschaftswahl freizukriegen.
Carter-Präsidentschaft in neuem Licht
Erst nach der Wahl gelang es Präsident Carter, sich mit den Iranern zu einigen und die Geiseln nach Hause zu holen, auch dank der Vermittlung von Schweizer Diplomaten in Iran. Am 20. Januar 1981 konnten die 52 Geiseln per Flugzeug Iran verlassen, nach 444 Tagen in Gefangenschaft. Fast exakt im selben Moment hielt Ronald Reagan eine Rede zu seiner Amtseinführung.
Auf die Fragen, ob Reagans Wahlkampfleiter dazu beitrug, dass die Geiseln dann erst freikamen, und ob Reagan selbst davon wusste, fehlen bis heute abschliessende Antworten. Die Präsidentschaft von Jimmy Carter aber erscheint in einem neuen Licht.
Seine Wiederwahl hätte er 1980 wohl so oder so verpasst: Die Wirtschaftslage war sehr schlecht, eine Befreiung der Geiseln hätte die deutliche Niederlage kaum in einen Sieg verkehrt.
Und doch verdient dieser Teil der Carter-Präsidentschaft eine Neubeurteilung. Dass er die Geiseln nicht freibekam, wurde ihm von seinen Gegnern als Schwäche ausgelegt. Das scheint ungerecht, wenn man bedenkt, dass der Wahlkampfleiter seines Gegners womöglich aktiv versuchte, seine Verhandlungen mit Teheran zu torpedieren.