Morgengrauen in Bangor im Bundesstaat Maine. John Murphy wirft die aktuelle Ausgabe der Zeitung «Bangor Daily News» auf den Beifahrersitz. Sie ist das Andenken an den Tag der Haftentlassung von Ernie Almeidas. Seit fast zwanzig Jahren kennt Murphy diesen Mann, hat ihn besucht, begleitet, beraten. Heute wird er freigelassen.
«Es ist ein unglaublicher Moment. Er hat gekämpft und gelitten und wollte seine Unabhängigkeit zurück.» Murphy ist pensionierter Anwalt. Er besucht seit zwei Jahrzehnten als Freiwilliger Jugendliche im Gefängnis. Er sagt, dass bei Buben die Rolle des Vaters entscheidend sei.
Wie beim jungen Almeida: «Ernies Erfahrung mit seinem Vater war miserabel: Er war ausfällig, vernachlässigte ihn und verschwand dann. Wiederholt. Er lehrte ihn die falschen Dinge über das Leben, über Beziehungen, über zivilisiertes Verhalten.»
John Murphy ist es in seiner Kindheit ähnlich ergangen. Aber andere männliche Familienmitglieder boten sich ihm als Vorbilder an. Dieses Geschenk will er weitergeben.
Seine Autofahrt führt Murphy in die Wildnis Maines. Die Haftanlage, eine Ansammlung von Hütten, ist ein Arbeitslager. Häftlinge verbüssen hier die letzte Phase ihrer Haft. «Es hat hier keinen Zaun, denn wer abhaut, kann nirgendwohin. Er würde wohl im Wald umkommen», sagt Murphy. Eine Gruppe Häftlinge kommt von der Sägerei her. Sie tragen Jeans, hellgrauen Baumwollpullover und orangefarbene Mützen.
«Es ist wie eine Wiedergeburt»
John Murphy parkiert und sieht Ernie Almeida. Der 34-jährige Mann ist blass und ausgemergelt, mit kurzen braunen Haaren, sein Hals ist tätowiert. «Hi! Ich muss mich noch abmelden, bin gleich zurück», sagt Almeida. Er verschwindet in der Baracke. Er sehe schlecht aus, habe viel Gewicht verloren, stellt Murphy fest.
Almeida kommt zurück mit einem durchsichtigen Plastiksack mit einigen Papieren drin. «Ist das alles, was Du hast?» – «Ja, das sind meine weltlichen Besitztümer.» – «Gut. Wir kommen nie mehr hier zurück, einverstanden?» sagt Murphy fordernd. «Ja», meint der gerade in die Freiheit Entlassene und steigt ins Auto.
Unterwegs schaut Ernie Almeida auf die Tannenwälder entlang der Strasse. «Es ist wie eine Wiedergeburt für mich. Mein ganzes Leben lang war ich immer wieder im Gefängnis.» Zuerst als 12-Jähriger wegen Diebstahls, dann wegen Kokainhandels und später wegen Fahrerflucht.
Später am Tag wird er in einen Greyhound-Bus steigen und zu seiner Mutter fahren, die er seit neun Jahren nicht mehr gesehen hat. In seinem Plastiksack hat er Gerichtsdokumente, Arbeitszeugnisse und einen Check über 1000 Dollar – der Lohn für die Arbeit, die er während der Haft geleistet hat. Es ist sein Startkapital.
Drogen und vernachlässigte Kinder
An einer Tankstelle mit einem Restaurant machen die beiden Halt, um Frühstück zu essen. Dann erzählt Almeida: «Ich habe zwei Töchter: zehn und neun Jahre alt.» Almeidas Ex-Frau war medikamentenabhängig und die Kinder wurden ihr weggenommen, nachdem er ins Gefängnis kam. Er habe mit Drogen gehandelt, weil seine Frau süchtig war. «Ich hatte meine Gründe. Waren es gute Gründe? Nein. Hätte ich anders vorgehen sollen? Ja.»
Er werde nicht versuchen, die Vaterrolle zu übernehmen, doch er wolle seine Töchter eines Tages wiedersehen, sagt Almeida. Er wolle sein Leben ändern. «Ich bin 34 Jahre alt, ich muss erwachsen werden. Sonst werde ich als alter Mann irgendwo in einem Gefängnis sterben.»
Er schaut zu Murphy rüber. «Ich habe John getroffen, als ich 15 Jahre alt war. Er war immer da für mich, wenn ich mit jemandem reden wollte. Er hat mir die Richtung vorgegeben. Er ist mehr als ein Vater für mich, er ist wie ein grosser Bruder. Ohne ihn wäre ich wahnsinnig geworden.»
Trump wird es richten
In keinem anderen Land sitzen so viele Menschen hinter Gittern. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung ist in den USA fast acht Mal so gross wie in der Schweiz. In den letzten dreissig Jahren hat sich die Häftlingsquote verfünffacht, steigt aber sein einigen Jahren nicht mehr an.
Früher sei es in den USA besser gewesen, finden beide Männer. Deshalb werden sie im November Donald Trump wählen. Für Murphy ist das ungewöhnlich, denn er wählt meistens demokratisch: «Vielleicht ist es keine gute Idee, wenn die gleiche alte Hillary Clinton die Wirtschaftspolitik bestimmt, obwohl diese in den letzten Jahren nur das reichste Prozent reicher gemacht hat.»
Wendepunkt Mitte dreissig
Der Ex-Häftling braucht jetzt noch frische Kleider. Sie fahren zum nächsten Walmart. Im Laden erzählt Murphy, er habe Almeida dazu überredet, nach Chicago zu seiner Mutter zu ziehen. Hier in Maine würde er nur seine alten Kumpel wiedersehen und riskieren, wieder kriminell zu werden.
«Ich habe in der Jugendstrafanstalt Kinder im Alter von acht oder neun Jahren kennen gelernt. Zwanzig Jahre später sind sie immer noch im Knast», erzählt Murphy. Das Justiz-System sperre sie einfach weg. Sie würden mit anderen problematischen Jugendlichen sozialisiert und hätten keine positiven Vorbilder. Es wäre besser, sie wie Menschen mit psychischen Problemen zu behandeln.
Er stelle sich als Mentor für straffällige Jugendliche zur Verfügung, weil sie die schwächsten Glieder der Gesellschaft seien. Als Katholik wolle er etwas Gutes für andere tun. Was Almeida angeht, ist Murphy zuversichtlich: «Er ist an einem Punkt, so Mitte dreissig, wo viele junge Männer oft genug haben vom bisherigen Leben als Kriminelle und bereit sind, einen anderen Weg zu gehen.»
Fahrt ins Ungewisse
Später, am Busbahnhof in Portland, Maine. Im Warteraum erzählt Ernie Almeida von seinen Plänen. Er wolle als selbständiger Schreiner arbeiten. «Ich habe mich an die Struktur in der Haft gewöhnt. Jetzt bin ich frei. Sie ist weg und das macht mir Angst.»
Beim Abschied klopfen sich die beiden Männer auf die Schulter. John Murphy sagt: «Gute Reise. Geniesse die Welt, deine Mutter, die neuen Menschen, die du treffen wirst. Und respektiere dich selbst, treffe positive Entscheidungen. Und ruf mich an.» Ernie Almeida setzt sich und wartet auf den Bus, mit dem er in ein neues Leben fahren will.