Torre Faro ist ein hübsches Aussenquartier von Messina. Der Blick geht übers tiefblaue Meer, fällt auf Einfamilienhäuser, idyllische Gärten und zwei kleine Seen. Genau hier soll der sizilianische Pfeiler der drei Kilometer langen Hängebrücke zu stehen kommen.
Ich will mir das lieber gar nicht vorstellen.
Daniele Ialacqua wohnt in Torre Faro und sagt: «Es wäre schrecklich. Ich will mir das lieber gar nicht vorstellen.» Denn die Pfeiler der Ponte sullo Stretto würden auf jeder Seite der Meerenge knapp 400 Meter hoch. Sie wären rund 70 Meter höher als der Eiffelturm. Ialacquas kleines Haus würde im Schatten dieses Riesen stehen.
Tragseile beim Friedhof
Ialacqua nimmt uns in seinem Auto mit auf eine Tour durchs Quartier: «Dort hinten sehen Sie unseren Friedhof. Zuerst planten sie, die tragenden Seile der Brücke genau dort, wo unsere Toten liegen, tief im Erdreich zu verankern.» Ein angepasstes, neues Projekt schont nun zumindest den Friedhof. Doch für ihn ist klar, dass dieses beliebte Wohnquartier mit dieser Brücke kaum noch Lebensqualität bieten würde.
Der Punkt, an dem die mit Abstand längste Hängebrücke der Welt Sizilien erreichen würde, liegt ein paar Kilometer nordöstlich des Zentrums von Messina.
Für die Leute an der Meerenge ist diese Brücke seit Jahrzehnten bereits ein Thema. Diverse italienische Regierungschefs versprachen, sie zu bauen: Romano Prodi, Silvio Berlusconi oder Matteo Renzi. Doch die Rechtsregierung von Giorgia Meloni scheint nun ernst zu machen. Im nächsten Jahr schon soll der erste Spatenstich erfolgen.
Die Meinungen sind gemischt
Auf der Piazza Cairoli im Zentrum Messinas hört man dazu sehr unterschiedliche Meinungen. Ein Teil der Jungen, die nach der Schule im Schatten sitzen, sagt: «Super, diese Brücke ist wichtig für Italien und ganz Europa». Andere kontern: «Nein, die nehmen uns doch nur auf den Arm, die werden die Brücke niemals bauen.» Und eine Schülerin wendet ein: «Es wäre schade um das wunderbare Landschaftsbild, würde man die Brücke tatsächlich bauen.»
Wir glauben an die Wissenschaft und an den technischen Fortschritt.
Santi Trovato ist der Präsident des Vereins der Ingenieure von Messina. Er teilt die Bedenken nicht – im Gegenteil. «Wir glauben an die Wissenschaft und an den technischen Fortschritt.»
Diese Brücke wäre weit mehr als nur eine Verbindung zwischen Kalabrien und Sizilien. Diese Brücke wäre eine Art Medizin für diese Stadt und für die ganze Region. Santi Trovato nennt es «urbane Akupunktur».
Denn von den rund 13 Milliarden Euro, die die Brücke kosten soll, werden vier Milliarden in die Brücke und ganze neun Milliarden in die Zufahrtswege investiert: für neue Strassen, neue Geleise, neue Bahnhöfe. Ingenieur Trovato und alle Befürworterinnen und Befürworter erhoffen sich Tausende von neuen Arbeitsplätzen.
«Ein technisches Wagnis»
In Torre Faro, dort wo sich der sizilianischen Pfeiler in die Höhe schrauben soll, schüttelt Daniele Ialacqua den Kopf. Er ist nicht nur ein Aktivist der ersten Stunde gegen diese Brücke, sondern er gehörte auch während fünf Jahren Messinas Stadtregierung an. Er kennt die Pläne und stellt fest: «Bis heute liegt kein Ausführungsprojekt vor».
Ialacqua und die Gegner sagen, die Brücke würde die unter Schutz stehende Landschaft verschandeln. Zudem stelle sie ein technisches Risiko dar. Denn die Materialien, eine solche lange Brücke stabil zu bauen, existierten noch gar nicht. Die Gegner verweisen aber auch auf die Erdbebengefahr.
Das verheerende Beben von 1908
Messina ist weit über 2000 Jahre alt, wurde schon von den alten Griechen gegründet. Und trotzdem sieht man heute in Messina kaum ein Haus, das älter als 100 Jahre alt ist. Das hat damit zu tun, dass hier die Erde öfters bebt. Im Jahr 1908 legte ein schweres Beben mit anschliessendem Tsunami Messina in Schutt und Asche. Die Gegner sagen darum: Das ist der denkbar schlechteste Ort, eine solche Brücke zu errichten.
Ingenieur Santi Trovato widerspricht. Er argumentiert, die Architekten und Fachleute hätten diese Brücke so konzipiert, dass sie selbst ein so starkes Beben wie jenes von 1908 überstehen könne. Aussage steht gegen Aussage – wie so oft, wenn es um diese Brücke geht.
Ausführungsprojekt bis Ende Jahr
Derweil hat am Hafen von Messina eines der grossen Fährschiffe angelegt. Aus dem dicken Bauch des Schiffes rollen Dutzende Autos und Lastwagen. Doch die Tage solcher Fähren sollen nun gezählt sein. Bis Ende Jahr soll das konkrete Ausführungsprojekt vorliegen. Und nach letzten Kontrollen und Anpassungen soll der Bau bis Mitte des nächsten Jahres beginnen.
Die Regierung von Giorgia Meloni hat im Parlament eine ausreichend grosse Mehrheit und hat bis zu den nächsten Wahlen noch über vier Jahre Zeit, dieses Jahrhundertprojekt ein ganz entscheidendes Stück vorwärtszubringen.