Verbrecher halten sich nicht an Landesgrenzen. Deswegen müssen auch Polizeikräfte grenzüberschreitend operieren. Dafür sorgt Interpol.
Das Problem: Die Instrumente der Weltpolizeibehörde, darunter riesige Datenbanken, Fahndungsaufrufe, Personenortungen oder technisches Knowhow, werden nicht ausschliesslich eingesetzt, um Kriminelle zu verfolgen. Autoritäre Regime nutzen sie auch gegen ihre Gegner.
Die Verfassung von Interpol sagt ganz klar, dass wir uns strikt herauszuhalten haben bei Dingen, die vorwiegend eine politische, militärische oder religiöse Komponente haben.
Das widerspreche krass der Verfassung von Interpol, rief deren Chef Jürgen Stock kürzlich an einer Medienkonferenz in Erinnerung: «Die Verfassung von Interpol sagt ganz klar, dass wir uns strikt herauszuhalten haben bei Dingen, die vorwiegend eine politische, militärische oder religiöse Komponente haben.» Einzelne der 196 Mitgliedstaaten foutieren sich darum. Diktatoren lassen über Interpol mit «Red Notices» weltweit nach Dissidenten fahnden.
Interpol hat unter Generalsekretär Jürgen Stock Verfahren geschaffen, damit Fahndungsbegehren einzelner Staaten nicht einfach durchgewinkt und global verbreitet werden: «Wir machen nicht einfach einen Stempel auf ein Ersuchen und verbreiten es global. Ich habe ein Team von über vierzig Leuten, das bei jedem Ersuchen prüft, ob es mit unseren Regeln übereinstimmt.»
Instrumentalisierung von Fahndungsaufrufen
Im Jahr 2022 wurden gut 300 von 24'000 Begehren auf eine «Red Notice» ausgesiebt. Wer sich missbräuchlich an Interpol wendet, sagt man am Hauptsitz in Lyon nicht. Bekannt ist aber, dass Russland das häufig tut, aber auch andere Länder: China, Venezuela, Bahrein, Belarus, Katar, Ägypten, Indien oder die Türkei. Die Instrumentalisierung der Fahndungsaufrufe zum Aufspüren von Dissidenten ist schwieriger geworden. Doch perfekt ist das Triage-System nicht, räumte Stock im US-Sender CBS selber ein.
Dazu kommt: Autoritäre Herrscher nutzen, was nun eine umfangreiche Recherche der «New York Times» aufdeckt, inzwischen andere Instrumente: Sie verlangen etwa von Interpol die Verbreitung von «Blue Notices», die aufrufen zum Sammeln von Informationen über politische Gegner. Oder «Green Notices», also Warnungen vor kriminellen Aktivitäten. Sie bezeichnen Dissidenten als vermisste Personen, um sie so suchen zu lassen.
Oder sie melden, wie jüngst etwa Belarus und die Türkei, Pässe von politisch Missliebigen, zuhanden der Interpol-Datenbank als gestohlen oder gefälscht. Die Betroffenen geraten damit auf den Radar der Polizei und Grenzwache weltweit. Anders als bei den «Red Notices» sind die Interpol-Kontrollen bezüglich missbräuchlicher Anwendung hier deutlich laxer.
Wer folgt auf Stock?
Die Amtszeit von Jürgen Stock an der Spitze von Interpol läuft aus. Er hat die Missbrauchsbekämpfung vorangetrieben. Auch seine möglichen Nachfolger bekennen sich dazu – im Prinzip. Wie ernst sie es damit meinen, ist unklar. Dem britischen Kandidaten Stephen Kavanagh wird zugetraut, dem Problem sein Augenmerk zu schenken.
Der brasilianische Mitfavorit für den Chefposten, Valdecy Urquiza, wirbt indes primär um Stimmen von Drittwelt- und Schwellenländern: «Interpol braucht nach einer Serie von US-amerikanischen und europäischen Chefs einen aus einer anderen Weltgegend.» Dort dürften es etliche Regierungen nicht ungern sehen, wenn die Weltpolizeibehörde ihre Forderungen künftig weniger streng prüft.