Wenn Asha Devi, die Mutter der 2012 vergewaltigten Jyoti Singh Pandey, die Bühne betritt, geht es einem durch Mark und Bein. Von Musik aus Lautsprechern begleitet, betritt die etwa 50-Jährige das Podium einer Veranstaltung am Hindu College im Norden von Neu-Delhi. Die Studenten im Publikum stehen auf, ihr zu Ehren. Die junge Moderatorin des Anlasses, vielleicht selbst im Alter von Jyoti Singh Pandey, bricht in Tränen aus.
Devi tritt ans Mikrofon. In den letzten Jahren ist sie zu einer vehementen Befürworterin der Todesstrafe geworden. Die Hinrichtung der Vergewaltiger ihrer Tochter soll andere Männer davon abschrecken, Frauen dasselbe anzutun, sagt die in einen gewöhnlichen Sari gekleidete Hausfrau und Mutter mit zitternder Stimme. Sie ist keine grosse Rednerin. Ihre Ansprache ist entsprechend kurz.
Devi sagt, sie empfinde Genugtuung, wenn sie mit Studentinnen rede. In vielen von ihnen erkenne sie ihre Tochter wieder. Doch der langwierige Prozess zermürbe sie. Erst wenn die Vergewaltiger tot seien, könne sie wieder ruhig schlafen. Es werde ein Gnadengesuch nach dem anderen gestellt. Devi kommt es vor, als würden die Rechte der Täter höher gewichtet als die der Opfer.
Dem widerspricht Anwältin Maja Daruwala. Jeder Mensch, sogar ein Vergewaltiger, habe Anrecht auf eine adäquate Verteidigung. Die Gnadengesuche seien Teil des Prozesses. Daruwala eine vehemente Kritikerin der Todesstrafe und argumentiert für die lebenslange Haft. Denn in jedem Urteil schwinge ein Quäntchen Zweifel mit. Dieser Zweifel könne bei lebenslanger Haft nochmals überprüft werden, nicht aber bei der Todesstrafe.
Abschreckende Wirkung nicht erwiesen
Devi hat die Zweifel jedoch schon längst abgestreift. Es geht ihr um Prävention: Männer würden es sich künftig zweimal überlegen, eine Frau zu vergewaltigen, wenn sie wüssten, dass sie dafür gehängt würden. Statistisch sei dies nicht erwiesen, weder in Indien noch anderswo, entgegnet Daruwala.
Erst letzte Woche wurde im Bundesstaat Maharashtra ein 19-jähriges Mädchen genauso brutal gefoltert und vergewaltigt wie Devis Tochter.
Es sei nicht die Härte der Strafe, die Menschen von Übeltaten abhalte, sondern die Gewissheit, tatsächlich bestraft zu werden, so die Anwältin. Das sei in Indien oft nicht der Fall. Dies liege daran, dass Vergewaltigungsopfer eingeschüchtert würden, damit sie keine Anzeige erstatten.
Mehr Anzeigen seit Rechtsreform
Immerhin das habe sich verbessert, sagt die Anwältin: Die Gruppenvergewaltigung von 2012 führte zu einer grundlegenden Rechtsreform. Dabei wurde die Definition von Vergewaltigung erweitert, eine Mindeststrafe eingeführt und der Opferschutz verbessert. Danach stieg die Zahl der gemeldeten Vergewaltigungen um über die Hälfte.
Das sei ein Zeichen von besserer Polizeiarbeit und davon, dass die Opfer mehr Vertrauen in die Behörden hätten, sagt Daruwala. Devi sieht es genau umgekehrt: Die Zahl der Vergewaltigungen sei in den letzten Jahren gestiegen, gerade weil noch keiner dafür die Todesstrafe erhalten habe.
Ob die Zahl der Vergewaltigungen in Indien nach 2012 tatsächlich zugenommen hat oder ob einfach mehr Fälle der Polizei gemeldet wurden, lässt sich nicht feststellen. Sicher ist nur: Weniger Sexualdelikte hat es nicht gegeben. Und es bleibt zu bezweifeln, dass an dieser Statistik auch die absehbare Hinrichtung der vier Männer etwas ändern wird.
Echo der Zeit, 31.01.2020, 18:00 Uhr