Zum Inhalt springen

Vergiftetes Klima Wachsende soziale Spaltung treibt Türken ins Exil

Immer mehr Menschen verlassen die Türkei. Es sind auch immer öfter ganz unpolitische, nicht einmal explizit Erdogan-kritische Türken, die sich ein Leben am Bosporus nicht mehr vorstellen können. Was sie antreibt.

Metin Ergün aus Istanbul bittet zum Interview auf den Balkon. «Wir ziehen bald nach Deutschland», entschuldigt er das Chaos in seiner Wohnung – die Kisten, Koffer und Tüten, die überall herumstehen.

«Ich liebe mein Land und seine Leute.» Dem Zwei-Meter-Mann stehen die Tränen in den Augen. «Und ich hätte mir nie vorstellen können, es zu verlassen. Als vor Jahren viele gebildete Türken anfingen auszuwandern, gehörte ich zu denen, die lieber hier investierten, um unser Land zu unterstützen», sagt er.

Die Politiker werden eines Tages verschwinden, aber die Menschen bleiben. Und das macht mir Angst.
Autor: Metin Ergün Türkischer Ex-Basketballstar

Und das, obwohl er überall hätte hingehen können. Als professioneller Basketballer bekam er damals Angebote aus allen Ecken Europas und Amerikas. Metin lehnte sie voller Stolz ab.

Der Ex-Sportler mit dem freundlichen Blick ist kein politischer Mensch. Wer in Ankara die Macht hatte, war ihm lange Zeit egal, solange seine kleine Sportschule im Zentrum Istanbuls florierte, die Strassen immer besser, die Häuser immer moderner wurden. Und auch jetzt ist es nicht die politische Lage, die ihn und seine Frau mit den beiden Kindern ins Ausland treibt.

Politisch-soziale Spaltung der Gesellschaft

Überall in der türkischen Gesellschaft herrsche heute Hass und Misstrauen, sagt Metin. «Ich wünsche mir für meine Kinder, dass sie anderen Menschen vertrauen können. Auch Fremden. Aber hier stossen Sie heute auf eine unbeschreibliche Aggressivität, sobald sie Ihren engsten Kreis verlassen.»

Es ist die tiefe soziale Spaltung im Land, die Menschen wie Metin zunehmend Angst macht. Und die daraus resultierenden Konflikte, die immer öfter in öffentlichen Verkehrsmitteln, auf Schulhöfen oder am Arbeitsplatz ausbrechen, weil ein Rock zu kurz, eine Bemerkung zu kritisch oder die Musik zu laut war.

Es geht nicht mehr um richtig oder falsch in der Sache, sondern um ein Lagerdenken, das unsere ganze Identität bestimmt.
Autor: Emre Erdogan Politikwissenschaftler, Bilgi-Universität Istanbul

Beobachter wie Emre Erdogan, Politikwissenschaftler von der privaten Bilgi-Universität in Istanbul, warnen vor dem sozialen Sprengstoff, der die türkische Gesellschaft nach Monaten und Jahren voller Ausnahmezustand, Terror und Dauerwahlkampf prägt.

«Die extreme Polarisierung sorgt dafür, dass die Menschen inzwischen alle Themen danach beurteilen, welchem politischen Lager sie angehören.» Vielleicht gingen die Leute nicht sofort mit Kalaschnikows aufeinander los – aber man müsse sich nur die Lynchstimmung in den sozialen Medien ansehen, fährt Emre Erogan fort.

«Für unsere Arbeit machen wir ausserdem häufig Studien mit Bürgern unterschiedlicher politischer Einstellung. Immer öfter müssen wir sie inzwischen nach einigen Minuten räumlich trennen, damit sie sich nicht an die Gurgel gehen. Selbst ganz normale Menschen sind durch und durch politisiert!»

Agenturen zur Jobvermittlung

Genau das ist es, was Ex-Basketballer Metin und viele andere Türken in diesen Tagen ins Exil treibt. Statistiken zu ihrer tatsächlichen Zahl gibt es keine. Doch gerade in gebildeteren, grossstädtischen Kreisen ist das Thema Auswandern allgegenwärtig.

In den sozialen Medien haben sich Agenturen auf die Vermittlung von Jobs in Europa oder Amerika spezialisiert. Sie helfen auch beim Kampf um eine Aufenthaltsbewilligung, was beispielsweise in Griechenland oder Spanien durch den Kauf von Immobilien erleichtert wird.

In Deutschland darf sich niederlassen, wer mindestens 250'000 Euro investiert oder ein Unternehmen gründet, das Arbeitsplätze schafft. Das will auch Metin mit einem deutschen Ableger seiner Sportschule versuchen. Sein Bruder, der seit Jahren in Stuttgart lebt, soll dabei helfen.

Das könnte Sie auch noch interessieren:

Meistgelesene Artikel