Zehntausende von Klagen gehen jährlich beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Fast 70'000 Fälle sind zurzeit hängig, obschon das Gericht im Akkord Urteile fällt. Mitunter gehe es um Lappalien, wie etwa eine Klage aus Bulgarien gegen eine gesetzeswidrig erhobene Parkbusse, erzählt Gerichtspräsidentin Síofra O’Leary.
Gericht seit Jahren überlastet
Häufig handelt es sich aber tatsächlich um schlimme Menschenrechtsverletzungen. Für sie ist der EGMR da und hier ist er unverzichtbar. Doch der Gerichtshof ist seit Jahren überlastet. Immerhin erhalte man für 2024 deutlich mehr Mittel, freut sich die Verwaltungschefin Marialena Tsirli. «Nach Jahren der Budgetkürzungen ist das ein historischer Schritt.»
Gravierender noch als die mengenmässige Überforderung ist die oftmals und zunehmend unbefriedigende Durchsetzung der EGMR-Urteile. «Zuständig dafür sind die einzelnen Staaten», betont Gerichtspräsidentin O’Leary an der Jahrespressekonferenz in Strassburg.
Besonders widerborstig zeigt sich die Türkei. Sie hat kritische Geister mit fingierten Anschuldigungen zu lebenslanger Haft verurteilt. Der bekannteste, aber längst nicht der einzige, ist der Kulturmäzen Osman Kavala. Laut mehreren Urteilen des EGMR müsste er seit Jahren wieder frei sein.
EGMR-Austritte befürchtet
Doch Präsident Recep Tayyip Erdogan bockt. Der EGMR besitzt lediglich moralische Druckmittel. Der Europarat, zu dem der Gerichtshof gehört, könnte zwar Ländern die Stimme entziehen oder sie gar aus der Organisation ausschliessen. Doch zu dieser Keule greift man nur im Notfall. So wurde Russland hinausgeworfen nach der Invasion in die Ukraine.
Manche im Europarat fürchten nun, dass Aserbaidschan und die Türkei von selber austreten. Beides sind gewiss keine Musterdemokratien. Ohne sie verlöre der Europarat an paneuropäischer Bedeutung und die Europäische Menschenrechtskonvention an Geltung. Pragmatismus kommt mitunter vor Prinzipientreue.
EGMR-Präsidentin O’Leary sprach deshalb neulich in einem Vortrag von «düsteren politischen Rahmenbedingungen». Und Europarat-Generalsekretärin Marija Pejcinovic Buric sieht gar «eine demokratische Erosion». Sie meint damit Länder wie Ungarn, ohne diese namentlich zu nennen. Hingegen betont sie: «Der politische Wille ist entscheidend, wenn es um die Respektierung von Grund- und Freiheitsrechten geht.»
Doch genau an diesem Willen fehlt es in mehr und mehr Hauptstädten. Diese Krise spüre man beim EGMR unmittelbar, sagt O'Leary. «Es gibt immer Menschenrechtsverletzungen und entsprechend ist mit künftig noch zahlreicheren Klagen in Strassburg zu rechnen.»
Regierungen beschweren sich
Gleichzeitig tun sich inzwischen viele Regierungen schwer mit dem Gerichtshof. Sie bezeichnen ihn als übergriffig. Zu oft mische er sich in Belange ein, für die nationale Parlamente und Gerichte zuständig seien. Besonders laut ist die Kritik in Grossbritannien, dessen Tory-Regierung schon mehrfach mit einer Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention drohte. Kritik ertönt aber auch in der Schweiz, vor allem von rechts.
Es ist daher wenig erstaunlich, dass Gerichtspräsidentin O’Leary neuerdings betont, sie verstehe den EGMR als subsidiäres Organ. Sozusagen als «letztes Bollwerk», wenn die innerstaatliche Aufsicht versage. Manche der jüngeren Urteile deuten darauf hin, dass die Strassburger Richter neuerdings wieder zurückhaltender sind, wenn es darum geht, Staaten zu verurteilen oder nationale Urteile umzustossen.