SRF News: Warum wurde Clenbuterol in Dopingproben der olympischen Spiele 2008 erst in Tests aus dem Jahr 2016 nachgewiesen, wie Sie in ihrem Bericht zur «Sportschau» der ARD vom 2. April berichten?
Hajo Seppelt: Die Nachtests wurden nach einer IOC-Verjährungsfrist von acht Jahren mit neuen Nachweismethoden durchgeführt. In den Proben von etlichen Sportlern wurden dabei Spuren von Clenbuterol entdeckt. Diese konnten im Jahre 2008 noch nicht gefunden werden. Die Nachweisbarkeit war damals noch weniger sensitiv als heutzutage. Heute kann man zehnmal niedrigere Werte finden als noch 2008.
Das Geschwafel der Null-Toleranz-Politik von IOC-Präsident Thomas Bach ist eine leere Worthülse, die nichts mit der Realität des Spitzensports zu tun hat.
Haben Sie die Ergebnisse überrascht?
Mich überrascht überhaupt nichts. Ich glaube ohnehin nicht an das Märchen vom sauberen Sport der weit überwältigenden Mehrheit aller Spitzensportler, was uns das Internationale Olympische Komitee (IOC) seit Jahrzehnten vorgaukelt. Ich glaube, dass die Dopingprävalenz sehr viel höher ist, wie auch Studien gezeigt haben, etwa von Wissenschaftlern der Universität Tübingen oder der Deutschen Sporthilfe. Sie legten Dopinghäufungen im Sport nahe, die um ein zigfaches höher sind als Dopingkontrollen zeigen. Das wollen viele Sportfunktionäre nicht wahrhaben. Das Geschwafel der Null-Toleranz-Politik von IOC-Präsident Thomas Bach ist eine leere Worthülse, die nichts mit der Realität des Spitzensports zu tun hat.
Die positiven Proben sollen von männlichen Sprintern des jamaikanischen Teams der Olympischen Spielen 2008 stammen. Wie schätzen Sie den jamaikanischen Leichtathletikverband ein?
Es verbietet sich über konkrete Namen zu spekulieren. Wir wissen nur, dass der jamaikanische Sprint der Männer auch betroffen ist. Wir wissen deshalb nicht, ob es auch die absoluten Top-Stars beinhaltet. Das IOC weiss selbst am besten, ob es auf einem Pulverfass sitzt oder nicht, ob also auch die allerbesten Sprinter verdächtige Proben aufweisen. Dass Jamaika ein Dopingproblem hat, ist indes hinlänglich bekannt. Es gab dort etliche Dopingfälle in den letzten Jahren. Dass das Kontrollsystem in Jamaika zumindest bis vor ein paar Jahren eine absolute Farce war, weiss inzwischen jeder. Das gilt auch für das Jahr 2008.
Man kann den Eindruck gewinnen, dass je wichtiger die Athleten sind, desto unterschiedlicher die Urteile ausfallen.
Der polnische Kanute Adam Seroczynski wurde des Clenbuterol-Dopings bei den Olympischen Spielen 2008 überführt und nachträglich gesperrt. Bei den jamaikanischen Sprinter drückt man beide Augen zu. Misst das IOC mit unterschiedlichen Massstäben?
Bei dem Clenbuterol-Level der Jamaikaner lässt man die These zu, nach der auch eine Fleischkontamination zu den Werten geführt haben könne. Bei den Clenbuterolwerten des Polen lässt man die These nicht zu. Obwohl die jetzige Argumentationslage auch das hergeben würde. Der Pole hatte zwar deutlich höhere Werte als die Jamaikaner, aber auch die sind theoretisch durch Fleischkontamination erklärbar. Das IOC hat aber im Jahr 2008 nicht an höhere Werte durch Fleisch geglaubt und den Polen sofort verurteilt. Interessanterweise gibt es hier offensichtlich eine «Lex Clenbuterol» mit unterschiedlichen Verfahrensweisen – je nachdem, wie es gerade passt. Man kann den Eindruck gewinnen, dass je wichtiger die Athleten sind, desto unterschiedlicher die Urteile ausfallen.
Ist die Welt Doping-Agentur (Wada) ein stumpfes Schwert, wenn sie positive Dopingproben nachweist, aber daraufhin niemand Ermittlungen anstellt?
Das IOC war der Auftraggeber der Nachtests, nicht die Wada. Man muss sich generell aber fragen, warum man noch nicht einmal Ermittlungen aufnimmt. Zumal sowohl die These vom kontaminierten Fleisch, als auch die vom mehrere Wochen zurückliegenden Doping zulässig ist. Insofern gibt es zwei Optionen. Warum man eine Option von vornherein ausschliesst, lässt viele Fragen offen. Dass wiederum heisst für mich, dass das IOC offensichtlich gar nicht wissen wollte, ob es sich vielleicht doch um Doping handelt – und das ist ein Armutszeugnis, eine Bankrotterklärung für die Dopingbekämpfung.
Dass die Wada da mitmacht, finde ich auch nicht gut. Vielleicht scheute die Wada langwierige juristische Auseinandersetzungen. Es ist sehr gut denkbar, dass das IOC wusste, dass wenn die Proben im Jahr 2016 kurz vor den Olympischen Spielen in Rio publik werden, es Ihnen das kommerzielle Genick bricht. Schliesslich standen die Spiele ohnehin wegen organisatorischer Mängel nicht unter einem guten Stern und da war ja noch der Doping-Skandal um das russische Team. Das muss eine erlaubte Spekulation sein, auch wenn es dafür keine Beweise gibt.
In ihrem Beitrag in der «Sportschau» erwähnen Sie weitere schriftlich bestätigte Clenbuterol-Fälle durch das IOC. Was genau hat Ihnen das IOC mitgeteilt?
Das IOC hat weder zu der Zahl der Athleten, der Länder oder der Sportarten irgendeinen Kommentar abgegeben – nur dass es weitere Fälle gibt. Auch das ist sehr eigenartig. Denn es ist zwar richtig, dass natürlich Athletenrechte gewahrt werden müssen, aber hier geht es gar nicht um Athletenrechte, hier geht es um die Zahl der Sportarten, die Zahl der Länder und der Sportler. Das verletzt ja keine datenschutzrelevanten Informationen. Warum das IOC nichts davon veröffentlicht, lässt tief blicken. Eine zulässige Interpretation ist, dass es sich auf wenige Sportarten und Länder beschränkt und damit der Verdacht erst recht auf bestimmte Nationen fällt.
Wird es durch die Argumentation des IOC Dopingsündern in Zukunft wieder etwas leichter gemacht?
Potenzielle Betrüger könnten bei einer solchen Politik leichtes Spiel wittern, selbst wenn sie überführt werden. Das ist ein alarmierendes Signal, das in die Welt gesendet wird. Das IOC erzählt immer vom Schutz des «sauberen Sportes». Das haben sie im Fall Russland nicht getan und das scheinen sie nun auch wieder nicht im Fokus zu haben. Die Pressemitteilung des IOC zum aktuellen Fall nennt die Betroffenen «unschuldige Athleten». Wie also kommt das IOC darauf, dass die Athleten unschuldig sind? Keiner sagt, dass die Athleten schuldig sind. Man weiss einfach nicht, ob sie schuldig oder unschuldig sind. Aber von vorneherein zu sagen, sie sind unschuldig, ohne ermittelt zu haben, ist ein weiterer Offenbarungseid für die Glaubwürdigkeit des IOC.
Vom IOC kann man in seiner jetzigen Konstellation nicht viel erwarten.
Was erwarten sie denn vom IOC in Zukunft?
Vom IOC kann man in seiner jetzigen Konstellation nicht viel erwarten. Ihre Vorschläge den Anti-Doping-Kampf zu stärken, sind vor allem von dem Motiv getrieben, ihren eigenen Einfluss nicht zu verlieren. Seit Jahrzehnten hat das IOC mit seiner Anti-Doping-Politik nicht etwa dazu beigetragen, dass die Chancengleichheit im Sport erhöht wird. Sie haben dafür beigetragen, dass die Chancengleichheit oft nur mit Füssen getreten wurde. Das ist pure Heuchelei und das hängt auch mit den handelnden Personen wie IOC-Präsident Thomas Bach zusammen. Leider verpasst er die Chance, den Anti-Doping-Kampf auf wirklich glaubwürdige und unabhängige Füsse zu stellen. Die Zeit dafür ist reif wie nie.
Das Gespräch führte Oliver Roscher