Mit 13 kam der jüdische Schriftsteller Eli Amir (85) als mittelloser Flüchtling aus dem Irak nach Jerusalem. Im Laufe der Jahrzehnte hat er es in Israel zu etwas gebracht: Er war Berater eines israelischen Premiers und Generaldirektor der Jewish Agency. Trotzdem denkt der 85-Jährige noch jeden Tag an Bagdad. «Ich rieche Bagdad, ich denke an Bagdad, und bevor ich einschlafe, wandle ich in Gedanken dem Tigris entlang», sagt Eli Amir.
Eli Amir hat seine Kindheit in Bagdad in mehreren Büchern verarbeitet, unter anderem in «Der Taubenzüchter von Bagdad.» An diesem Vormittag in Jerusalem fliesst der Tigris vor seinen geistigen Augen durch, er sieht die Insel, auf die ihn sein Vater an Konzerte mitnahm. Hier sah er die legendäre jüdisch-irakische Sängerin Salima Murad, deren Stimme bis heute in der arabischen Welt nostalgische Gefühle weckt. Die jüdische Diva war mit dem muslimischen Sänger Nazem Al-Ghazali verheiratet: im Bagdad der 1930er und 40er Jahre kein Thema. Dann kam der Farhud – und mit ihm der Tod von 150 Jüdinnen und Juden (siehe Box).
Eli Amir war damals vier Jahre alt. «Sie plünderten und vergewaltigten, sie brannten unsere Häuser nieder. Uns eilte unsere muslimische Nachbarin Chayria zu Hilfe, sie kam in unsere Wohnung und drohte, jeden zu töten, der uns etwas antun wollte», sagt er. Seine Mutter und Chayria seien so eng befreundet gewesen, dass er mit zwei Müttern aufgewachsen sei: einer jüdischen und einer muslimischen. «Chayria hat uns damals das Leben gerettet,» sagt Eli Amir.
Es dauerte zwei Tage, bis die britische Armee die Angreifer niederschlug. Als es vorbei war, hätten seine Mutter und ihre Freundin bitterlich geweint. «Sie weinten, weil sie verstanden hatten, dass es mit dem Zusammenleben von Arabern und Juden in Bagdad vorbei war.»
«Geh zu Onkel Isaak»
«In letzter Zeit spaziere ich in meinen Träumen wieder durch den prächtigen jüdischen Hanouni Markt in Bagdad,» sagt der 85-Jährige. Als israelischer Staatsbürger darf er nicht mehr in seine Geburtsstadt zurückkehren. Das Viertel, wo der jüdische Markt einst war, existiert heute noch: Es heisst Qanbar Ali und liegt im Zentrum Bagdads. Die Kriege der letzten Jahrzehnte haben ihre Spuren hinterlassen. Nach den Juden haben auch die meisten Christinnen und Sunniten das Quartier verlassen: heute ist die Bevölkerung mehrheitlich schiitisch.
Abu Ali, aber, ist geblieben. Der 71-jährige Sunnite wuchs zusammen mit dem Schiiten Abu Ziad, 58, hier auf. «Einst war hier ein grosser Markt», sagt Abu Ziad. Mit seinem Gehstock zeigt er auf ein paar wenige Obststände. Auf offener Strasse über Juden zu reden, ist im heutigen Bagdad gefährlich.
Abu Ali und Abu Ziad tun es trotzdem. «In diesem Haus lebten Juden – sie verkauften Zuckerrohr», erinnert sich Abu Ali. Er zählt die Namen der Söhne auf, weiss noch, dass ihr Vater Abraham hiess. Die meisten Juden waren bereits weggezogen, als die beiden Muslime in den 1960er und 70er Jahren hier aufwuchsen. Aber einige waren geblieben.
«Wir machten damals keinen Unterschied zwischen Juden, Christen und Muslimen,» sagen Abu Ali und Abu Ziad. «Wenn mich meine Mutter zum Juden nebenan schickte, sagte sie: geh zu Onkel Isaak», erinnert er sich. Abu Ali und Abu Ziad zeigen auf jedes Haus, wo einst jüdische, oder auch christliche Familien gewohnt haben, und schwelgen in Kindheitserinnerungen. Ein Haus wird renoviert, gleich daneben steht ein abbruchreifes, ohne Dach und Fensterscheiben. «Es wurde verlassen,» erklärt Abu Ziad, «es gehörte einem jüdischen Gemüsehändler.»
«Die letzte Jüdin im Quartier hiess Sabiha. Sie starb Ende der 1990er Jahre. Sie hatte eine Bulldogge, als Wachhund. Die Leute nannten sie Heldin, weil sie nicht wegging», sagt Abu Ziad. Über eine Frau namens Sabiha sang die jüdisch-irakische Gesangslegende Salima Murad – auch sie blieb in Bagdad, bis sie 1974 starb.
Die womöglich allerletzte Jüdin in Bagdad wurde im gleichen Jahr geboren, als Salima Murad starb. Sie zu finden und ihr Vertrauen zu gewinnen, dauert Monate und führt über Kontakte im irakischen Kurdistan. Obwohl dort, in dieser autonomen Region, das Judentum – im Gegensatz zu Bagdad – noch offiziell als Religion anerkannt wird: Angst und Misstrauen sind gross. Besonders im März dieses Jahres. Damals feuerte Iran, der Erzfeind Israels, mehrere Raketen auf die kurdische Hauptstadt Erbil ab. Angeblich, weil Israel dort zunehmend aktiv werde.
Ein paar Tage nach diesem Raketenangriff: Treffen mit Shirko Othman, einem Vertreter der kurdischen Juden, am Stadtrand von Koya, nur wenige Kilometer von der iranischen Grenze entfernt. «Die Leute wissen, dass dies einst eine jüdische Ortschaft war, und dass ich Jude bin», sagt Othman. «Das Problem sind die Politik und die Medien: diese beeinflussen die Menschen, selbst wenn sie es untereinander gut haben.»
«Als die Juden gingen, verliess uns der Segen»
Shirko Othman erwähnt die Konferenz in Erbil, die eine amerikanische Organisation im letzten Herbst zur Normalisierung der Beziehungen mit Israel veranstaltete. Die kurdische Regierung wurde vom Aufruhr, den Drohungen gegen Juden und dem Raktenbeschuss aus dem Iran überrascht.
Nach der sogenannten Normalisierungskonferenz in Erbil verabschiedete das irakische Parlament ein Gesetz, das für jegliche Art von Kontakt mit Israelis drakonische Strafen vorsieht – es droht gar die Todesstrafe. Zwar weigerte sich der Staatspräsident, das Gesetz zu unterschreiben. Ein Schlag für irakische Juden mit Verwandten in Israel ist es trotzdem.
Wir verloren das Gute, und hatten seither nur noch Kriege und Probleme.
«Meine Grossväter sagten: als die Juden gingen, verliess uns der Segen. Wir verloren das Gute, und hatten seither nur noch Kriege und Probleme,» sagt Shirko Othman. Warum hat er den Irak trotzdem nie verlassen, obwohl er Verwandte in Israel hat? «Eine schwierige Frage: aber ich glaube, es gibt eine tiefe spirituelle Verbindung zum Ort, wo man geboren wurde.»
«Keinen Unterschied zwischen Juden und Muslimen»
Ein Symbol für diese spirituelle Verbindung der Juden mit dem Irak ist das Grab des biblischen Propheten Nahum in Alqosh, 40 Kilometer nördlich von Mossul. Die Grabstätte ist auch ein Symbol für all das, was der Irak seit dem Exodus seiner jüdischen Bevölkerung verloren hat.
Die Schlüssel zur Synagoge in Alqosh hat ein christlicher Soldat. Dieser freut sich sichtlich über den seltenen Besuch. Er zeigt auf die hebräischen Inschriften, auf den Davidstern, und dann, mitten im dunklen Gewölbe, auf ein Buch. Es ist ein Tanach, eine hebräische Bibel. Der Soldat lächelt verschmitzt. Vor drei, vier Monaten habe er die Synagoge für einen jüdischen Besucher aus Israel aufgemacht – dieser habe das Buch hier hingelegt.
Dass ein Jude aus Israel, trotz Einreiseverbot, die Synagoge besuchen konnte, gibt dem Soldaten Hoffnung. Hoffnung, dass die Vertreibung religiöser Minderheiten aus dem Irak aufhört.
Nach den Juden traf es die Christen
Während die Juden ab den 1950er Jahren aus dem Irak vertrieben wurden, traf es die Christen nach 2003, als die USA in den Irak einmarschierten, um Saddam Hussein zu stürzen. Seit 2003 ist die christliche Bevölkerung um über 80 Prozent geschrumpft. Im Chaos, das auf die US-Invasion folgte, hatten Extremisten Auftrieb und bewaffnete Gruppierungen formierten sich.
«Nach 2003 kamen die bewaffneten Gruppierungen und verbreiteten Hass und Rassismus. Vor 2003 kannte ich den Unterschied zwischen Assyrern und Chaldäern nicht – das waren für mich Völker aus den Geschichtsbüchern. Ich wusste nur, ich war Christin», sagt die Bürgermeisterin Lara Yussif Zara. Der Hass, den Extremisten und politische Mächte – die sie nicht namentlich nennt – in die irakische Gesellschaft gebracht hätten, sei eine Tragödie, ein Desaster, sagt sie.
«Es geht nur um Machtpolitik und Gier,» sagt die Bürgermeisterin von Alqosh, die letztes Jahr knapp einem Anschlag entkam. Juden, Christen, Jesiden – der Irak verliere eine nach der anderen seiner religiösen Minderheiten. Zara sagt: «Die Minderheiten im Irak sind wie Düfte oder Farben. Verschwindet eine Farbe nach der anderen, gibt es das Gemälde, das der Irak einmal war, nicht mehr.» Ausser im kurdischen Norden kommt das Judentum im Irak nicht mehr als offizielle Religion vor.
«Das ist der echte Irak»
Szenenwechsel. Die womöglich letzte Jüdin in Bagdad betet alleine in der Synagoge, von der man nicht wissen darf, wo sie sich befindet. Es ist ein Gebet für die Verstorbenen. Sie sitzt auf einer der mit weissen Tüchern bedeckten Bänke. Ihren Namen will sie nicht nennen: die wenigsten wissen, dass sie Jüdin ist. Der Christ und die beiden Muslime, die mit ihr zur Synagoge gekommen sind, hüten ihr Geheimnis. Sie helfen ihr auch, den Zerfall des Gotteshauses, so gut wie's geht, aufzuhalten.
Möge Frieden mit euch sein, so endet das Gebet. Der Christ und die beiden Muslime senken respektvoll ihre Köpfe. «Das ist der echte Irak, so wie er vor 2003 war. Wir konnten miteinander leben,» sagt einer der beiden Muslime. Aber so wie vorher, werde es nie mehr, sagt der Christ. «Die womöglich letzte Jüdin in Bagdad weiss nicht einmal, ob sie überhaupt im Irak bleiben kann. Die Behörden in Bagdad machen es ihr schwer, ihren irakischen Pass zu erneuern: «Die Beamtin sagte: Du bist Jüdin. Du bist nicht Irakerin.»