Die einfache Erklärung für die Warteschlangen vor den Geschäften in Sri Lanka: Die Nahrungsmittel im Land sind knapp geworden, weil Händler ihre Ware horten, um die Preise künstlich in die Höhe zu treiben. So erklärt das Staatspräsident Gotabaya Rajapaksa.
Es fehlt an Devisen, um Nahrungsmittel zu importieren.
Die etwas kompliziertere und für den Präsidenten weitaus unangenehmere Erklärung ist aber jene, die verschiedene Analysten des Landes äussern. Etwa Ahilan Kadirgamar von der Universität Jaffna. Er stellt fest, dass sich das Land in der grössten Wirtschaftskrise seit der Unabhängigkeit des Landes befinde. «Es fehlt sogar an Devisen, um Nahrungsmittel zu importieren.»
Völlig überschuldetes Land
Das Land produziert zwar genügend Reis. Doch Hülsenfrüchte, Zucker oder Milchprodukte müssen aus dem Ausland eingeführt und mit Devisen bezahlt werden. Die Devisen wiederum fehlen, weil der Tourismus ausblieb. Zudem brachen die Rücküberweisungen der Gastarbeiter aus den Golfstaaten massiv ein.
Die Verschuldung ist über Jahrzehnte angewachsen.
Seit Beginn der Pandemie Anfang 2020 sind die Devisenreserven Sri Lankas von 7.5 Milliarden Dollar auf 1.8 Milliarden gesunken. Doch dafür ist nicht Corona allein verantwortlich, wie Bhavani Fonseka von der oppositionsnahen Denkfabrik Center for Policy Alternatives sagt. «Das grösste Problem des Landes ist die Verschuldung, welche über Jahrzehnte angewachsen ist.»
Der Schuldenberg ist mittlerweile grösser als die jährliche Wirtschaftsleistung des Landes. Eine Regierung nach der anderen habe Importe mit Schulden im Ausland finanziert. Jede Anleihe wurde mit neuen Anleihen zurückbezahlt. So sei die Verschuldung des Landes durch die Decke gegangen, sagt Fonseka.
Geldgeber verfolgen eigene Agenda
In den kommenden Jahren müsse Sri Lanka vier bis zu fünf Milliarden Dollar zurückbezahlen, sagt Kadirgamar von der Jaffna Universität. Die Ratingagenturen haben die Kreditwürdigkeit des Landes denn auch bereits herabgestuft. Das macht es umso schwieriger für Sri Lanka, an neues Geld zu kommen.
Zwar seien Indien, Bangladesch und China weiterhin bereit, Sri Lanka Geld zu leihen. Doch das habe seinen Preis, sagt Fonseka. China beispielsweise hat bereits riesige Summen in unrentable Infrastrukturprojekte wie Strassen, Häfen oder einen Flughafen gepumpt, die aber kaum in Gebrauch sind. Auch diese Investitionen müssen zurückbezahlt werden.
Das Problem sei, dass niemand in der sri-lankischen Regierung eine Ahnung habe, wie die Schulden getilgt werden könnten, so Fonseka weiter.
Einzige Idee der Regierung: Notstand
Als bislang einzige Massnahme hat Präsident Rajapaksa Ende August den Notstand ausgerufen. Dieser ermächtigt ihn allein und allenfalls sogar mit Unterstützung des Militärs, die Nahrungsmittelengpässe in den Griff zu bekommen.
Notstände wurden in Sri Lanka immer wieder genutzt, um unliebsame Stimmen zum Verschwinden zu bringen.
Dies sei eine drastische Massnahme für ein Problem, das über Monate hinweg vorhersehbar war, findet Fonseka. «Notstände wurden in Sri Lanka immer wieder genutzt, um fundamentale Freiheiten über längere Zeit einzuschränken oder unliebsame Stimmen zum Verschwinden zu bringen.» Man müsse abwarten, was die Regierung mit dem neusten Notstand bezwecke.
Für die beiden Analysten Fonseka und Kadirgamar ist der einzige Ausweg für Sri Lanka, die lokale Nahrungsmittelproduktion zu erhöhen, um weniger von Importen aus dem Ausland abhängig zu sein. Dies sei aber ein langer Prozess, der nicht mit einem Notstandsgesetz bewerkstelligt werden könne.