Mindestens 7500 Personen sind nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei bereits in Haft. 3000 Richter wurden des Amtes enthoben und 8000 Polizisten sind nach jüngsten Meldungen suspendiert. Fragen an die in Istanbul lebende Journalistin Luise Sammann zu den Hintergründen der erstaunlich raschen und umfangreichen Verhaftungsaktion.
Wenn so viele Menschen auf einen Schlag verhaftet werden – wo kommen diese hin?
Am ersten Tag schien das tatsächlich ein grosses Problem zu sein. Im Internet kursierten Bilder von halbnackt Verhafteten, die mit Handschellen gefesselt am Boden in Sporthallen lagen. Da sah es wirklich so aus, als ob man nicht wüsste, wohin mit diesen Menschen. Aber da scheint man schnell reagiert zu haben, und inzwischen sind die wohl alle untergebracht. Es sieht ja ohnehin nicht danach aus, als wären diese Festnahmen vollkommen spontan geschehen, sondern dass das schon länger geplant war.
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Können die Tausenden mit einem fairen Prozess rechnen?
Diese grosse Frage ist nicht erst jetzt mit diesem Vorfall aufgekommen. Seit Monaten wenn nicht Jahren steht die Frage im Raum, wie funktionsfähig das türkische Rechtssystems und die Demokratie noch sind. Daran dürfte sich nicht allzu viel geändert haben. In den letzten Jahren gab es mehrfach solche Verhaftungswellen, immer wieder mit Bezug auch auf die Bewegung von Erdogans Erzfeind, dem Prediger Fethullah Gülen. Diese Bewegung steht auch jetzt wieder im Zentrum der ganzen Ermittlungen. Ob diese Verfahren fair sind oder nicht, hängt tatsächlich davon ab, aus welcher Perspektive man das betrachtet.
Gibt es einen Zeithorizont für die Verhafteten, wann sie mit einem Prozess rechnen können?
Das ist eines der ganz grossen Probleme, dass Menschen oft unheimlich lang in Haft auf ihren Prozess warten müssen. Klar ist, dass die Drahtzieher des Putschversuchs auf jeden Fall lebenslange Haftstrafen erhalten. Hier dürften die Prozess relativ schnell losgehen, weil dies das türkische Volk fordert.
Viele Menschen stellen sich momentan aber die Frage, was mit den einfachen Soldaten passiert. Im Internet kursieren Geschichten von Wehrdienstleistenden, die angeben, in Unkenntnis der Lage befehligt worden zu sein nach dem Motto: «Fertig machen und mitkommen». Sie hätten gar nicht gewusst, was vorgehe. Auch äussern sich Betroffene, deren Pflichtdienst nach eigenen Angaben in wenigen Tagen beendet gewesen wäre. All diese Menschen kann man jetzt wohl kaum lebenslänglich ins Gefängnis stecken.
Erdogan hat nun offenbar auch 8000 Polizisten auf die Strasse gestellt. Wer garantiert die Sicherheit noch?
In der Türkei gibt es 250‘000 Polizisten. 8000 weniger dürften die Sicherheit des Landes nicht wesentlich gefährden. Dazu kommt die Armee, die zusätzlich mit weiteren Erdogan-Treuen verstärkt worden ist. Sie hat viel Macht und Schlagkraft auch innerhalb des Landes.
Hat Erdogan noch weitere Kreise im Visier, beispielsweise die Universitäten oder die Kulturschaffenden?
Auch diesbezüglich hat sich in der Türkei gar nicht so viel geändert durch die jüngsten Geschehnisse. Erdogan war bereits vorher als Machtmensch bekannt, der seine Macht bis zum bitteren Ende ausnutzen wird.
Klar ist, dass die Türkei nicht demokratischer werden wird, denn Erdogan geht gestärkt aus den Geschehnissen hervor. Als grosser Sieger, der einen Putsch abgewendet hat, den – und das ist zu betonen – auch die Erdogan-Gegner nicht wollten. Viele Menschen hier haben mir gesagt, sie würden Erdogan nie wählen und unterstützen, aber lieber Erdogan als eine Militärregierung. Es herrscht also eine fast schon absurde Einheit im türkischen Volk, das eigentlich sehr gespalten ist. Und diese Einheit stärkt Erdogan jetzt den Rücken.
Das Gespräch führte Simon Leu.