Auf den ersten Blick sieht man Mary Patrick ihre Leidensgeschichte nicht an: Mit tief gebeugtem Rücken steht sie vor einer Plastikschüssel und spült Berge von Geschirr. Dazu lächelt und singt sie – und winkt den Leuten zu, die ihr vom Balkon eines dreistöckigen Hauses aus zuschauen. «Ich mag die Leute, mit denen ich zusammenlebe», sagt die junge Frau.
Mary Patrick hat Zuflucht gefunden bei der vorwiegend von den USA finanzierten Organisation «Hilfe für verfolgte Christen». In einem grossen Haus in der nigerianischen Stadt Jos lebt sie zuammen mit 21 anderen Menschen, die vor Boko Haram fliehen konnten. Auch Mary ist der Terrormiliz entkommen. Vier Monate Geiselhaft hat sie zuvor ertragen müssen.
Aus Mary wurde Aishatu
Die junge Frau erzählt: «Wir waren auf einer Hochzeit, meine Schwester und ich. Sie war schwanger. Die Boko-Haram-Kämpfer kamen, zerrten uns in ihre Autos und sagten, sie würden uns in ihre Lager bringen, wo wir für sie arbeiten sollen.» Mary Patrick ist Christin, aufgewachsen in der nordnigerianischen Ortschaft Mubi, nahe der Grenze zu Kamerun. In dieser Region leben vorwiegend Muslime. Marys Vater war der einzige der Familie, der konvertierte.
Im Camp nahmen die Boko-Haram-Milizen Mary die Kleider ab. «Sie gaben uns ein langes, schwarzes Gewand, einen Hidjab und eine Maske». Auch ihren christlichen Namen durfte Mary nicht mehr benutzen. Jetzt hiess sie Aishatu.
Wochenlang wurde sie militärisch ausgebildet. Man habe ihr beigebracht, wie man Bomben zündet, wie man schiesst und Dörfer angreift. Im Lager traf Mary auch auf einige der Schulmädchen, die Boko Haram im Frühling 2014 aus Chibok entführt hatte. Die Entführung hatte weltweit für Entsetzen und Protest gesorgt. Mary berichtet, sie habe zahlreiche Tage mit den Mädchen verbracht. Wie viele von den Schülerinnen noch leben, weiss Mary nicht. Jene, die sie getroffen hat, waren ihr allerdings nicht geheuer.
Als sie über die Begegnung mit den Mädchen berichtet, wechselt sie in ihre Muttersprache Hausa: «Die Mädchen waren die schlimmsten Kämpferinnen, blutige Killerinnen. Sie wussten nicht mehr, was gut oder böse ist.» Auch sie selber habe im Camp je länger desto mehr den Verstand verloren. «Man tut nur noch, was die anderen tun, man befolgt Befehle.»
Wer nicht gehorcht, wird getötet
Wer das nicht tat, riskierte getötet zu werden. Marys Schwester zum Beispiel. Der Kommandeur habe von ihr verlangt, einen alten Mann im Lager zu töten, weil er angeblich zu viel esse. Die Schwester habe sich geweigert. «Sie sagte, sie würde eher selber sterben, als diesen Mann zu töten.» Daraufhin hätte sie einer der Boko-Haram-Kämpfer erschossen.
Im Januar gelang Mary die Flucht. Fünf Tage bevor sie mit jenem Boko-Haram-Kämpfer hätte zwangsverheiratet werden sollen, der ihre Schwester getötet hatte. An einem Abend waren die Milizen so betrunken, dass die junge Frau um ihr Leben rennen konnte.
Die Organisation Hilfe für verfolgte Christen hat Mary aufgenommen. Wenn die junge Frau heute auf dem Markt in Jos einkauft, sieht man ihr nicht an, wie schlecht es ihr psychisch geht. Doch in einer ruhigen Minute gesteht sie: «Ich weiss, der Gedanke ist nicht gut, und ich hoffe, Gott vergibt mir: Aber ich möchte zur Armee und Boko-Haram-Kämpfer besiegen. Wenn ich einen fange, dann werde ich ihn töten, damit er keine unschuldigen Menschen mehr umbringen kann.»