SRF News: Die islamistische Terrorgruppe Boko Haram hat im Nordosten Nigerias die Stadt Damasak überfallen, Menschen getötet und wieder Frauen und Kinder verschleppt – von 500 Personen ist die Rede: Patrik Wülser, Wie gesichert sind diese Informationen?
Patrik Wülser: Diese Entführung hat stattgefunden. Verschiede Augenzeugen haben davon berichtet, lokale Politiker haben sie am Telefon bestätigt. Das Ausmass kann allerdings niemand beziffern. Bei solchen Überfällen herrscht Panik, Menschen fliehen in den Busch. Die einen werden entführt, andere verstecken sich. Deshalb sind genaue Angaben über die Zahl der Entführten nicht möglich. Auch die nigerianische Regierung ist völlig unzuverlässig.
Bereits vor etwa einem Jahr hat Boko Haram mehr als 200 Schülerinnen verschleppt und damit weltweit für Entsetzen gesorgt. Muss man sagen: «Schon wieder» Frauen und Kinder?
Was die öffentliche Wahrnehmung angeht, könnte man das vielleicht so sagen. Der jüngste Überfall oder die Entführung der Schulmädchen im vergangenen Frühling sind spektakuläre Ereignisse, aber solche Ereignisse sind Alltag in Nigeria, vor allem im Norden. Vor wenigen Wochen haben mir unzählige Frauen im Norden Nigerias erzählt, wie sie während Tagen und Wochen von Boko Haram festgehalten wurden. Die Überfälle laufen immer nach dem gleichen Muster ab: Boko Haram überfällt Dörfer, tötet Männer, die nicht fliehen können und verschleppt dann die Frauen als Geiseln, Arbeitssklavinnen oder Zwangsehefrauen. Ein nigerianischer Parlamentarier hat gegenüber der BBC gesagt, er gehe davon aus, dass hunderte, wenn nicht tausende von Kindern und Frauen irgendwo im Busch festgehalten werden.
Die nigerianische Regierung hatte erst kürzlich erklärt, die Armeen von Niger und Tschad hätten die Kämpfer von Boko Haram zurückgedrängt, und zwar genau aus jenem Gebiet, wo der Angriff nun stattgefunden hat. Heisst das, dass die Offensive gegen die Terrormiliz doch nicht erfolgreich war?
Ich würde das so nicht sagen. Der Allianz ist innerhalb von sechs Wochen gelungen, was die nigerianische Armee, die zweitgrösste Armee Afrikas, während sechs Jahren nicht geschafft hat: Boko Haram aus vielen Dörfern und Städten zu vertreiben. Doch wir sprechen hier von einem unübersichtlichen Gebiet im Norden Nigerias. Die Region, die von Islamisten kontrolliert wird, ist so gross wie Belgien. Einige hundert dieser Islamisten wurden zwar getötet, der Rest hingegen nur verjagt. Diese Kämpfer kommen immer wieder zurück.
Gibt es denn Anzeichen, dass Boko Haram durch diese Offensive geschwächt wurde?
Einige hundert islamistische Kämpfer sind zwar getötet worden, viele Dörfer und Städte wurden befreit. Doch die Islamisten sind eng verbunden mit anderen Gruppierungen in der Sahelzone und erhalten auf diesem Weg auch Nachschub. Auch die Allianz aus rund 6000 bis 7000 Soldaten aus Niger und Tschad wird Boko Haram nicht vertreiben können. Die Elitesoldaten können die Städte zwar mit Kampfhelikoptern erobern, dann aber müssten diese durch die nigerianische Armee auch dauerhaft gesichert werden. Das Problem Boko Haram lässt sich langfristig sowieso nicht mit Waffen, sondern eher mit geschickter Politik lösen.
Am Samstag sind in Nigeria Präsidentschaftswahlen. Steht der jüngste Überfall in einem Zusammenhang mit den Wahlen?
Ich denke, diese Frage kann niemand beantworten. Der Überfall kann ein Racheakt auf eine Offensive der Allianz sein. Klar ist: Boko Haram hat immer gedroht, alles zu tun, um die Wahlen zu verhindern. Die islamistische Sekte lehnt alles ab, was einen modernen, aufgeklärten Staat ausmacht. Und dazu gehören eben auch Wahlen.
Der amtierende nigerianische Präsident Goodluck Jonathan hat die Wahlen vor 6 Wochen verschoben – mit dem Argument, man wolle zuerst Boko Haram in den Griff bekommen. Das ist offensichtlich nicht gelungen. Sind die Wahlen vom Wochenende gefährdet?
Die Wahlen wurden offiziell aus Sicherheitsgründen verschoben. Der wahre Grund war ein politischer. Das Versagen im Kampf gegen Boko Haram wurde für den amtierenden Präsidenten Goodluck Jonathan zu einer Hypothek: Umfragen zeigten, dass es knapp werden könnte. Die Nigerianerinnen und Nigerianer waren zunehmend unzufrieden mit ihrem Präsidenten. Goodluck Jonathan wollte Zeit gewinnen. Nun wird er den Erfolg der Allianz nutzen wollen, wenn es auch nicht sein eigener ist. Deshalb glaube ich nicht, dass die Wahl erneut verschoben wird.
Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.