Die Ukraine wird seit dem russischen Angriff anders wahrgenommen, auch ihr Präsident Wolodimir Selenski. Derzeit wird er viel gelobt. Dabei wurde ihm kurz vor dem Krieg noch vorgeworfen, er regiere autoritär und er habe die Korruption nicht bekämpft, sondern lediglich auf andere Nutzniesser verschoben. Der Politikwissenschafter André Härtel schätzt die Entwicklungen ein.
SRF News: Ist der Applaus, den der ukrainische Präsident Selenski von allen Seiten erhält, gerechtfertigt?
André Härtel: Ja, er macht es den Umständen entsprechend gut. Ihm kommt natürlich bis zu einem gewissen Grad zugute, dass während des Kriegszustands alles auf ihn als Staatsoberhaupt zugeschnitten ist. Viele der Konflikte, in denen er sich vorher sehr schwergetan hat – etwa Abstimmungen oder das Knüpfen von Allianzen mit anderen politischen Institutionen und Akteuren in der Ukraine – fallen jetzt bis zu einem gewissen Grad weg. Zudem kann er seine Talente in der Kommunikation voll ausspielen, weil sich die Medien sehr stark auf ihn konzentrieren.
Vor dem Krieg haben Sie noch untersucht, ob Selenski populistisch regiert und ob er in Richtung Autoritarismus neigt. Was war Ihr Befund?
In den ein bis zwei Jahren vor dem Krieg konnte man gewisse Tendenzen beobachten: Wolodimir Selenski hatte teils die Abkürzung genutzt. Er ging nicht mehr den üblichen Institutionenweg, beispielsweise bei Sanktionen gegen prorussische Oligarchen. Sondern er nutzte den Sicherheitsrat, ein nicht gewähltes Gremium, um Entscheidungen schnell zu treffen, ohne Gerichtsentscheide abzuwarten.
Ich unterstelle ihm keinen Autoritarismus, aber eine sehr grosse Unerfahrenheit und auch ein gewisses diplomatisches Ungeschick.
Gerade gegenüber der Justiz oder dem Parlament konnte man Selenski teilweise unterstellen, dass er andere Institutionen zu umgehen versuchte. Letztendlich ist das durch die Verfassung bis zu einem gewissen Grad gedeckt. Ich unterstelle ihm keinen Autoritarismus, aber eine sehr grosse Unerfahrenheit und auch ein gewisses diplomatisches Ungeschick in der Abstimmung und im Knüpfen von Allianzen mit anderen politischen Akteuren.
Jetzt im Krieg hat man noch viel stärker den Eindruck, dass er allein die Zügel in der Hand hält und er allein sagt, was im Land läuft.
Ja, natürlich ist das so. Durch den Kriegszustand sind die Entscheidungsfindungen mehr oder weniger auf ihn zugeschnitten. Dennoch läuft im Hintergrund auch die parlamentarische Arbeit. Das Parlament ist derzeit extrem mit dem Krieg und Gesetzen gegen Kollaboration usw. befasst. Aber es ist natürlich so, dass der Kriegszustand dem Präsidenten eine ausserordentliche Machtfülle gibt.
Wie viel Demokratie darf in einem Krieg verloren gehen, damit sie nicht für immer verloren ist?
Ich sehe die Gefahren für eine zukünftige Zentralisierung oder einen autoritären Rückschritt der Ukraine als eher gering. Im Gegenteil: Es wird vielleicht sogar so sein, dass sich eine Situation wie nach der Revolution 2014/15 einstellt; dass die Zivilgesellschaft so erstarkt ist, dass sie nach dem Krieg eine erneute oder stärkere Einbindung in die politischen Prozesse verlangen wird.
Die Entscheider sind sich darüber im Klaren, dass es ohne die Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte und der Zivilgesellschaft nicht funktioniert.
Im Ausland geniesst Selenski ein relativ hohes Ansehen. Bei der Bekämpfung der Invasion in der Ukraine sieht man das aber ein bisschen anders. Es ist eine Art Volkskrieg. Alle Ressourcen, auch die gesellschaftlichen, werden voll ausgeschöpft. Und die Entscheider sind sich auch in der Ukraine darüber im Klaren, dass es ohne die Einbindung aller gesellschaftlichen Kräfte und der Zivilgesellschaft nicht funktioniert.