Die Reise beginnt dort, wo sie am 17. März dieses Jahres jäh unterbrochen worden ist: in einer Werkstatt in Salt, rund 30 Kilometer nördlich der jordanischen Hauptstadt Amman.
Der Schmied Fouaz blickt von seiner Werkbank auf und lächelt. Er erinnert sich an die SRF-Korrespondentin. Damals, vor siebeneinhalb Monaten, hatte König Abdullah II. plötzlich Militärrecht in Kraft gesetzt. Panzer fuhren auf, Soldaten riegelten die Provinzen ab. Zehn Millionen Menschen hatten kaum Zeit, sich mit dem Nötigsten einzudecken, bevor die erste tagelange und komplette Ausgangssperre begann.
Dabei hatte Jordanien Mitte März gerade mal elf Corona-Fälle. Faouz verstand die Welt nicht mehr.
Der monatelange Lockdown hat uns an den Abgrund gebracht.
Er werde seine Werkstatt trotz Lockdown nicht schliessen, sonst verhungere seine Familie, sagte er damals, bevor das Interview unter den dramatischen Umständen abgebrochen werden musste. Jetzt erzählt er, dass ihm das Militär keine Wahl gelassen habe: Werkstatt schliessen oder Gefängnis.
«Der monatelange Lockdown hat uns an den Abgrund gebracht», sagt der Werkstattchef. Aber gebracht hätten die Massnahmen nichts, sagt er, und verweist auf die täglich über 5000 neuen Covid-19-Fälle.
«Corona ist verheerender als der Golfkrieg»
Tourenleiter Ahmed Bani Mustafa zimmert Holzfässer vor seinem gemieteten Haus in der Nähe von Jerash. Verkaufen kann er sie kaum. Er vertreibt sich damit die Zeit. «Seit dem 17. März habe ich keinen einzigen Tag gearbeitet», sagt er. «Während des Arabischen Frühlings und des Syrienkrieges brachen unsere Einnahmen um 50 bis 70 Prozent ein, während des Irakkrieges 2003 noch mehr. Aber die Coronakrise ist noch verheerender.» Seine Ersparnisse hat der Tourguide im Juli aufgebraucht, ein Staatsdarlehen muss er bald zurückzahlen.
«Aber ich bin optimistisch», sagt der Tourguide. «Wir Muslime haben Vertrauen in die Zukunft. Von klein auf hat man uns beigebracht, dass Gott unser Schicksal bestimmt: Das zu akzeptieren, ist sehr wichtig.»
Wir haben ein Problem mit dem kritischen Denken.
Alles als Schicksal zu akzeptieren, bringe die jordanische Gesellschaft nicht weiter, sagt der jordanische Philosophieprofessor Mahmoud Bani Domi. Er wohnt im Dorf Kofer Alma bei Ajloun und lehrt an der Jordan University in Amman. «Ausserhalb Ammans gibt es für Philosophie an Universitäten eine Ausgangssperre, ähnlich wie wir sie wegen Corona kennen», scherzt er. Das «Philosophieverbot» an Universitäten in besonders religiösen Landesteilen kritisiert er: «Wir brauchen kritisches Denken.»
«Wenn ich nur immer die Ideen meiner Eltern fraglos übernehme, bleibt unsere Gesellschaft unfrei und es ändert sich nie etwas. Unsere Fesseln sind nicht physisch, sondern mental; und leider sind diese sehr schwierig loszuwerden», sagt der Philosophieprofessor.
Am Anfang der menschlichen Entwicklung stehe die Existenz, das Überleben. Danach denke der Mensch an Sicherheit. Erst, wenn sein Überleben gesichert ist, könne er sich um seine eigentliche Entwicklung kümmern. «Und wo stehen wir?», fragt der Professor. «Wir denken noch immer nur an unsere Existenz, ans reine Überleben. Wir sehen auch gar nicht ein, dass wir etwas verändern müssen, weil wir nicht kritisch denken lernen.» Damit klammere sich die Gesellschaft an bewährte Strukturen und die Regierung habe kein Interesse daran, dass sich das ändere.
Apathie: 70 Prozent der Bevölkerung wählt nicht
Die Strassen sind gepflastert mit Wahlplakaten. Sie interessieren kaum jemanden. Die meisten wollten am 10. November nicht wählen. Aus Angst vor Corona. Weil das Parlament nichts zu sagen habe. Oder: Weil nur Mitglieder einflussreicher Stämme kandidierten. Letzteres sagt niemand offen.
In Yubla, einer 8000-Seelen-Gemeinde nur wenige Kilometer von der syrischen Grenze entfernt, empfängt uns Scheich Saif Al Deen Al Obeidat, einer der Stammesältesten des Obeidat-Stammes, der mit 50'000 Familienmitgliedern der grösste Stamm im Königreich ist. «Wir stammen alle vom gleichen Urvater ab», sagt der Scheich. «Ich bin als eines der ältesten Stammesoberhäupter namentlich eingetragen in den Registern der Regierung und des königlichen Hofes und ich bin der Chef dieses Dorfes», stellt er seinen Status klar.
Seit Mitte März hat er sein Haus kaum mehr verlassen. Trotzdem weiss er, wie die Coronakrise Jordanien zusetzt.
«Gott sei Dank haben wir die internen Probleme unserer Nachbarstaaten nicht, weil wir eine Stammesgesellschaft sind.»
Sein 47-jähriger Neffe Laith ergänzt: «Die Stämme nehmen Druck weg von der Regierung, indem sie auf ihre Art die Wirtschaft stabilisieren.»
Wer hat den IS rausgeschmissen? Wir, die Stämme.
«Dass es jemandem an Essen oder Medikamenten mangelt, hört man bei uns kaum. Als unsere syrischen Stammesbrüder zu Hunderttausenden nach Jordanien flüchteten, versorgten wir sie mit dem Nötigsten.» Ohne die gut organisierte Hilfe der Stämme hätte das zu massiven Problemen geführt, ist Laith Obeidat überzeugt. Dank der Stämme habe auch der IS hier nicht Fuss fassen können.
«Der IS versuchte, über die Grenze zu kommen. Wer hat sie rausgeschmissen? Wir, die Stämme. Wir kennen jeden und schmeissen Fremde raus, bevor sie Probleme machen.» Bei grösseren Problemen wende sich selbst der Gesetzgeber an die Stämme, sagt Laiths Onkel, Sheich Saif Al Deen Al Obeidat. Im Gegenzug beharren die Stämme darauf, dass sie ihre Rechtsstreitigkeiten selbst schlichten und ihren starken politischen Einfluss bewahren.
Die Mittelschicht gibt es nicht mehr. Die Leute sind entweder arm oder reich.
In der Stadt Madaba südlich von Amman ertönen Kirchenglocken und der Muezzin gleichzeitig. In Jordanien sind über 90 Prozent der Bevölkerung muslimisch, nur rund 6 Prozent christlich: Der Stolz auf den Religionsfrieden gehört zum Nationalbewusstsein, und dafür ist Madaba ein Aushängeschild. Hauptsache, man glaubt an Gott.
Zwischen Kreuzen und Mondsicheln gibt es aber auch Hammer und Sichel: Die Kommunistische Partei Jordaniens hat hier ein Büro. Natali Hamarneh ist zwar die Tochter eines grossen christlichen Familienclans. Weil ihr Stammesdenken fremd ist und sie mit ihrer sozialkritischen Haltung in keine der regierungsnahen Parteien passt, ist die 34-Jährige bei den Kommunisten.
Sie stösst damit die Gesellschaft vor den Kopf, aber ihre Eltern unterstützen sie. Solange sie gängige gesellschaftliche Normen respektiert. «Wir leben mit Traditionen. Selbst die Rebellischen, die Kommunisten und sogar die Atheisten müssen Kompromisse machen. Du kannst nicht alles über den Haufen werfen.»
Natali ist Englischlehrerin an einer privaten Primarschule und hat fünf Jahre im Ausland gearbeitet. Nach ihrer Rückkehr sei sie erschrocken. «Die Mittelschicht gibt es nicht mehr. Die Leute sind entweder arm oder reich.» Für Natali macht vieles keinen Sinn, was die Regierung macht.
«Warum verhängt die Regierung eine tagelange Ausgangssperre nach den Wahlen? Und trotz 5000 bis 6000 Corona-Fällen pro Tag nicht vorher? Warum müssen kleine Betriebe schliessen, aber die grossen Ketten bleiben offen und verdienen? Warum sind alle unsere Schulen seit Monaten geschlossen?»
Ihre Vermutungen tönt sie nur vorsichtig an. «Wir werden hier für Kritik zwar nicht hingerichtet, aber es ist einem trotzdem nicht ganz wohl, seine Meinung zu sagen.» Allzu offene Regierungskritik ist heikel, besonders unter Militärrecht.
Touristenattraktion ohne Touristen
Die letzte Station der Reise ist die antike Stadt Petra. Mehr als eine Million Touristen besuchten 2019 die Stadt im Süden des Landes. Jetzt wartet der Beduine Ali mit Mariam und Chatam vergeblich auf Touristen.
«Wenn es so weitergeht, haben wir keine Zukunft», sagt Chatam. «Petra ist traurig, wir sind traurig und ganz Jordanien ist traurig», erklärt Mariam.
Oberhalb der fast menschenleeren Antikenstadt singen sich Beduinen von den Bergen aus zu. In wenigen Stunden beginnt der Lockdown. Wie jeden Abend.