Hubert Aiwanger ist das Gesicht der Freien Wähler in Bayern – ein hemdsärmliger Politiker und talentierter Bierzelt-Redner mit Hang zum Populismus. Sein Auftritt an einer Kundgebung in Erding bei München im Juni erntete Kritik auch vom Koalitionspartner CSU.
Nun sei der Punkt erreicht, wo endlich die schweigende grosse Mehrheit des Landes sich die Demokratie zurückholen müsse, rief der demokratisch gewählte Vizeministerpräsident damals in die jubelnde Menge. «Ihr habt’s wohl den Arsch offen da oben», schickte er an die Adresse der demokratisch gewählten Ampelregierung in Berlin zum Heizungsgesetz nach.
Am Stammtisch – Extremisten unerwünscht
Mitte September, im Weissen Bräuhaus in München, konzentriert man sich auf Bier und geschmortes Herz vom BayernOx. Hier treffen sich die Freien Wähler zum Stammtisch. Um sich auszutauschen und kennenzulernen, erklärt der Münchner Stadtrat Hans-Peter Mehling.
Niemand soll die Partei im Sack kaufen können, aber auch niemand das Mitglied, betont Mehling. Potenzielle Mitglieder der Freien Wähler müssen sich vorstellen. Man will keine Extremisten.
Hoffnungen und Versprechen
Tobias Fehrenbach, ledig, aber liiert, ist seit März dabei. Vor dem Bräuhaus erzählt der frühere SPD-Wähler, was ihn zur Neuausrichtung bewogen hat: Ein gewisses Ohnmachtsgefühl während Corona und damit der Wunsch, aktiv etwas beeinflussen zu können.
Im Vergleich zu den anderen Parteien ist bei den Freien Wählern alles sehr bodenständig und nahbar.
Auch Stephanie Schober möchte in einer «Welt im Umbruch» etwas bewegen und beschnuppert jetzt die Freien Wähler. Sie findet es interessant, dass die Partei keine Grossspenden annimmt. Ebenso gefallen ihr der liberale Gedanke und die grosse Bodenständigkeit der Partei. Alles sei im Vergleich zu den anderen Parteien sehr nahbar.
Vereint in Aufbruch und Frust
Die Freien Wähler sind vor allem auf dem Land populär. Sie profitieren davon, noch nicht zum Establishment gezählt zu werden. Die Sehnsucht nach etwas Unverbrauchtem ist gross. Der Frust über das Bisherige auch.
So geht es auch dem einstigen CSU-Mitglied Georg Hofmann, der nach eigenen Worten ursprünglich sehr glücklich war, als sich die Ampel gefunden hatte: Grüne für Naturschutz, SPD für Soziales und FDP für freiheitliche Belange. Doch in letzter Zeit sei alles sehr enttäuschend gelaufen.
Ich kenne so viele Menschen, die kurz davor sind, AfD zu wählen, sich dann doch nicht trauen und gar nicht wählen.
Die CSU wiederum ist ihm zu merkelfreundlich. Hofmann vermisst in Deutschland die bürgerliche Mitte: Menschen, die arbeiten, Steuern zahlen und ihre Familien ordentlich versorgen, seien politisch heimatlos geworden. Er kenne so viele Menschen, die kurz davor seien, AfD zu wählen, sich aber doch nicht trauten und gar nicht an die Urne gingen: «Da haben wir das grosse Glück mit den Freien Wählern und dem Aiwanger. Da kann ich voll dahinterstehen.»
Höhere Ziele
Die Geschäftsstelle der Freien Wähler Bayern leitet Elisabeth Schnaller, die nach der Flugblatt-Affäre viel Zuspruch registriert. Bei der Partei ist sie seit den 1980er-Jahren. Eigentlich sind es unabhängige kommunale Wählergruppen, die sich lokal engagieren: «In einer Politik zum Wohl der Bürger – ohne vorgeschriebene Parteidoktrin von oben nach unten», fasst sie zusammen.
Das Wesen der Freien Wähler war es, auf eine klassische Parteistruktur zu verzichten. Doch Aiwangers Beliebtheit sorgt nun für höhere Ambitionen. Nämlich bei den nächsten Wahlen in den Bundestag zu kommen. Dafür müsste das Modell als klassische Partei für ganz Deutschland taugen. Bayern wird zur Referenz.