1. Was ist derzeit das Problem der Linken in Frankreich?
Charles Liebherr: Die Linke in Frankreich ist zersplittert. Das war sie zwar schon immer. Anders als vor früheren nationalen Wahlen scheint aber diesmal keine Einigung auf einen Präsidentschaftskandidaten mehr möglich.
2. Was sind die Gründe für die Zersplitterung?
2012 verständigten sie die linken Parteien darauf, in den Vorwahlen jenen Kandidaten zu bestimmen, der gegen den damaligen Präsidenten Nicolas Sarkozy gewinnen kann. Das war der kleinste gemeinsame Nenner. François Hollande wurde dieser Kandidat.
Seine Wirtschaftspolitik als Präsident spaltete jedoch die Linke schnell wieder. Sogar innerhalb der regierenden Sozialisten stellte sich der linke Parteiflügel gegen Hollande. Und weil der eingeschlagene Kurs keinen schnellen Erfolg brachte, die Zahl der Arbeitslosen also nicht kleiner wurde, wandte sich ein grosser Teil der linken Bündnisses gegen Hollande.
3. Warum ist die einst grosse Sozialistische Partei am Boden?
Die Sozialistische Partei in Frankreich führte nie eine parteiinterne Reformdebatte so wie in Deutschland oder Grossbritannien. Das heisst, die Parteimitglieder mussten sich in der Wirtschaftspolitik nie auf einen gemeinsamen Kurs einigen.
Der eher reformorientierte, rechte, sozial-demokratische Flügel und ein linker Flügel, der keine liberale Wirtschaftspolitik wollte, politisierten unter dem gleichen Dach weiter wie immer. Die fehlende Reformdebatte zeigt sich 2017 als historisches Versäumnis.
4. Wie kann die Sozialistische Partei ihre frustrierte Stammwählerschaft zurückgewinnen?
Zurückgewinnen lässt sich eigentlich nichts. Die enttäuschten linken Wähler haben ja viele Alternativen. Für viele ist Emmanuel Macron mit seinem liberalen Mitte-links-Kurs besser.
Links von den Sozialisten ist die Alternative Jean-Luc Mélenchon. Und sogar jene die immer noch die Sozialisten wählen wollen, können zwischen grob zwei Lagern entscheiden. Unter diesen Vorzeichen gibt es nichts zu gewinnen.
5. Droht gar ein Zerfall der Sozialistischen Partei?
Die Partei ist schon zerfallen. Die Niederlage ist fast programmiert. Nachher müssen sich die Sozialisten in jedem Fall neu positionieren, endlich das nachholen, was schon lange hätte gemacht werden sollen, nämlich eine gemeinsame Linie definieren. Gut möglich, dass die Sozialistische Partei das nicht unter einem Dach schafft. Dann ist es wahrscheinlich, dass sich das linke Lager ganz neu zusammenstellen wird.
6. Ist den Linken zu wenig bewusst, dass sie im Präsidentschaftswahlkampf nur mit geschlossenen Reihen eine Chance haben?
Natürlich wissen das alle im linken politischen Spektrum. Präsidentschaftswahlen lassen sich wegen des Wahlsystems nur geschlossen gewinnen. Anders ist das bei den nachfolgenden Parlamentswahlen. Viele Kandidaten des linken Flügels denken an ihre Stammwähler, um ihren Sitz im Parlament zu verteidigen. Darum wollen sie den regierenden Sozialisten nicht die Hand bieten. Sie kalkulieren, dass sich der Oppositionskurs innerhalb der eigenen politischen Familie letztlich eher auszahlen wird.
7. Kann die Linke bei den Präsidentschaftswahlen 2017 nur verlieren?
Ja, das Wahlsystem verlangt grosse homogene Parteien-Koalitionen, die gegeneinander antreten. Die Linke wird das nicht schaffen. Les Républicains und der Front National haben darum bessere Chancen, einer der ersten beiden Plätze im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen zu erreichen.
Alle Stimmen für das links-grüne Lager verteilen sich auf drei oder vier Kandidaten. Das kann arithmetisch nur für einen dritten Platz eines Kandidaten reichen. Das ist gleichbedeutend mit dem Ausscheiden. Die Stichwahl scheint im Moment unerreichbar für einen linken Kandidaten, egal wer es sein wird.
Fragen von Benedikt Widmer.