Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption. Die Leute in Bosnien-Herzegovina haben viel Elend erduldet in den letzten Jahren. Für viele Bürgerinnen und Bürger im serbischen Landesteil, in der Republika Srpska, hat ein Mord jetzt aber das Fass zum Überlaufen gebracht; ein Mord, der von der Polizei vertuscht werden sollte und von dem Spuren bis ganz weit oben in die Politik führen. Seit mehr als sechs Monaten findet in der Hauptstadt Banja Luka jeden Abend eine Demonstration statt.
Jedes Mal singen die Demonstranten dieses Lied mit der Zeile: «Ich werde wohl nicht weit kommen, ich bin nur eine Schachfigur in diesem Spiel.» Geschrieben hat es David Dragicevic. Der 21-Jährige wurde im März tot in einem Bachbett gefunden, nachdem er offenbar während Tagen gefoltert und dann ermordet worden war.
Jeden Tag um 18 Uhr versammeln sich Demonstranten auf dem Hauptplatz von Banja Luka und singen mit. Heute sind es 500 Leute. Es waren aber auch schon 10'000 und für den 5. Oktober – zwei Tage vor den Wahlen – ist wieder eine Grosskundgebung angesagt.
Davids Vater führt den Protest an. Mit dem Tod seines Sohns habe er alles verloren. Er habe nichts mehr zu verlieren und darum werde er nicht locker lassen. «Unzählige Male haben wir schon gefragt: Wer hat David ermordet? Die Behörden schweigen, weil es Leute aus dem Umfeld von Präsident Milorad Dodik und Innenminister Dragan Lukac sind», sagt Davor Dragicevic.
Der Vorwurf ist happig, aber er ist nicht aus der Luft gegriffen. Als die Polizei zum ersten Mal über den Mord informierte, stellte sie den Tod als Unfall dar, schwärzte David als Drogensüchtigen an, der auf dem Heimweg von einem Einbruch gewesen sei.
Bald aber brach dieses Erklärungsgebäude ein. Es kamen Videoaufnahmen zum Vorschein, die zeigten, dass der Einbruch von der Polizei fingiert war. Es stellte sich heraus, dass der Obduktionsbericht manipuliert wurde und dass Polizei und Staatsanwaltschaft die Untersuchung sabotierten.
Verdacht auf Vertuschung
Oppositionspolitiker Branislav Borenovic leitete eine parlamentarische Untersuchungskommission, die unter dem Druck der Strasse eingesetzt wurde. «Unsere Arbeit hat gezeigt, dass da etwas ganz Grosses ist, etwas, das vertuscht wird. Und wir kamen zum Schluss, dass es sich um einen Mord und nicht um einen Unfall handelt», sagt Borenovic.
Warum riskieren Präsident und Regierung ihre politische Zukunft? Warum vertuschen sie etwas, wenn es da keine Verbindung geben soll?
Er will sich nicht direkt zu einer Verwicklung der obersten politischen Führung in den Mord äussern – das sei nicht seine Aufgabe – aber er stellt die Gegenfrage: «Warum riskieren Präsident und Regierung ihre politische Zukunft? Warum vertuschen sie etwas, wenn es da keine Verbindung geben soll?», sagt der Oppositionspolitiker.
Einschüchterung und Diffamierung
Tanja Topic beobachtet die politische Szene im serbischen Teil Bosniens für die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung. «Die Führung der Republika Srpska fürchtet sich sehr vor den Folgen dieses Falls. Bisher hatte sie die Macht auf sicher, jetzt aber könnten die Proteste Auswirkungen auf die Wahlen haben», sagt Topic. Die Führung habe nach dem gewohnten Muster reagiert: Sie habe kritische Medien eingeschüchtert und die Demonstranten als vom Westen und vom ungarisch-stämmigen Investor Soros bezahlte Verräter diffamiert.
Wie können Sie in der EU, in der Schweiz, zusehen, was hier passiert?
Auf dem Hauptplatz von Banja Luka steht im Kreis seiner Unterstützer Vater Dragicevic. Vor wenigen Tagen wurde er von einem Provokateur tätlich angegriffen. Er ist am Rande seiner Kräfte. «Verstehen Sie, sie haben meinen Sohn entführt, sechs Tage lang misshandelt und dann getötet, jetzt haben sie es auf mich abgesehen. Wie können Sie in der EU, in der Schweiz zusehen, was hier passiert?», sagt Dragicevic.
Politiker, Drogendeals und Waffenhandel
Seine Anwälte haben inzwischen mitgeteilt, sie hätten Beweismaterial, das den Hintergrund des Mords an David erklären könnte. Als IT-Student habe er auf einem Computer, den er wartete, Einblick in Informationen gehabt, die Verbindungen von Politikern mit dem Drogen- und Waffenhandel belegten.
Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Leute nichts sagen dürfen, um ihren Arbeitsplatz fürchten oder ihre Rente.
Unter den Demonstranten steht ein Frau mit einem Hund an der Leine. Sie kommt mehrmals die Woche am Abend hierher. Sie habe das Glück, dass sie nicht von der Regierungspartei abhängig sei. «Sie können sich nicht vorstellen, wie viele Leute nichts sagen dürfen, um ihren Arbeitsplatz fürchten oder ihre Rente», so die Demonstrantin.
Die Leute haben Angst. Und daran haben unsere Proteste noch nichts geändert.
«Wer sich nicht zur Treue gegenüber der Partei verpflichtet, bekommt hier keinen Arbeitsplatz, keinen öffentlichen Auftrag, nichts. Die Leute haben Angst. Und daran haben unsere Proteste noch nichts geändert», sagt die Frau. Sie wolle die Hoffnung nicht aufgeben, aber sie frage sich immer öfter, ob sie nicht doch auch ins Ausland gehen sollte mit ihrer Familie – wie die anderen, die zu Zehntausenden das Land jedes Jahr verlassen.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich Milorad Dodik und seine Partei in der Republika Srpska an der Macht halten können bei der bevorstehenden Wahl. Die Demonstranten singen das Lied von David und strecken dazu die Fäuste in die Luft. Sie wissen aber, dass Milorad Dodik das Spiel mit der Angst bisher immer gewonnen hat.