Nirgendwo ist die Ukraine so europäisch wie in Lemberg. Die Stadt hat einst zu Polen gehört, dann zu Österreich-Ungarn, später war sie sowjetisch und ist heute das Herz der Westukraine.
Im touristischen Zentrum der Stadt sitzen Roman Fedinjak und Rostislav Tistik in einem Kaffeehaus. Die beiden wollen für «Diener des Volkes», die Partei von Präsident Wolodimir Selenski, ins Parlament.
Sie seien vor fünf Jahren auf dem Maidan-Platz dabei gewesen, sagt Tistik. «Wir protestierten gegen Korruption, Willkür und für eine europäische Ukraine. Dann kam eine neue Regierung an die Macht, aber das Leben wurde nicht besser.»
Wie viele andere Ukrainer wurden die beiden von Präsident Petro Poroschenko enttäuscht. Aber dann, sagt Fedinjak, sei ein «würdiger Politiker» aufgetaucht, eine «moralische Autorität» – Wolodimir Selenski.
«Er ist ein ehrlicher, offener Mann, der sich nie an staatlichen Geldern bereichert hat. Er ist die Chance für eine echte Veränderung in unserem Land», sagt Fedinjak.
Selenski soll endlich regieren können
Wolodimir Selenski also soll den langersehnten Wandel schaffen. Der Präsident ist seit Mai im Amt. So richtig regieren konnte er bisher nicht, weil das Parlament seine Vorstösse grösstenteils blockierte. Die Neuwahlen am kommenden Wochenende sollen das ändern.
Umfragen sagen Selenskis Partei «Diener des Volkes» über 40 Prozent der Stimmen voraus. Zusammen mit Direktmandaten könnte es sogar für eine absolute Mehrheit reichen.
«Wir stehen vor einer Revolution an der Wahlurne», sagt Fedinjak. «Das ist eine Revolution, bei der kein Blut vergossen wird. Stattdessen gehen die Leute wählen und erneuern die politische Elite.»
Schon die Wahl Selenskis war ein radikaler Bruch: Die alte politische Elite wurde in die Wüste geschickt. Der neue Präsident hat zwar Charme und ist als früherer Komiker auch witzig. Aber politische Erfahrung hat Selenski keine. Bis vor kurzem hatte er nicht einmal ein Team – und auch keine Partei.
Auch in Lemberg gibt es bis heute keine Parteistrukturen, sagt Tistik. «Diener des Volkes» ist wie ein Verein organisiert: man koordiniert den Wahlkampf und hält Kontakt mit der Zentrale in Kiew.
Richtung Europa
Rasch mussten Kandidaten gefunden werden. Ins Parlament wollen junge Enthusiasten wie Fedinjak und Tistik, aber auch ein Immobilien-Mogul, ein Profi-Fussballer und eine Managerin. Was ist das Programm dieser bunten Truppe?
«Wir werden die Korruption bekämpfen und besiegen. Und die Ukraine soll sich in Richtung Europa bewegen.», sagt Fedinjak. Diese proeuropäische Haltung erstaunt nicht. Alles andere würde die Wahlchancen in Lemberg, dieser europäischen Stadt, auf null reduzieren.
Allerdings gibt es viele Stimmen, die Wolodimir Selenski für russlandfreundlich halten. Das stimme nicht, sagt Roman Fedinjak zu diesem Widerspruch. Auch der Vorwurf, der Präsident sei abhängig von einem Oligarchen, habe keine Grundlage.
Fedinjak und Tistik verteidigen ihren Präsidenten gegen jede Kritik. Sie glauben daran, dass Selenski der richtige Mann ist, um die Probleme der Ukraine zu lösen.
Ältere Bürger der Ukraine erinnern sich, dass die Hoffnungen auf einen Wandel schon oft gross waren. Etwa nach der Orangenen Revolution 2004 oder nach dem Volksaufstand 2014 auf dem Maidan. Auch damals sind neue Kräfte an die Macht gekommen und versprachen eine neue Ukraine. Aber die grossen Erwartungen wurden bisher noch jedes Mal enttäuscht.